Es war Ende Oktober, als ich erst bemerkte, dass ich die ganze Zeit über unüberlegt gehandelt hatte.
Gleich am ersten Tag, als ich das Apfelmädchen entdeckt hatte, hätte ich statt langweiligen Erzählungen zuzuhören, sofort zu ihr herüber gehen sollen.
Ich hätte statt nach dem Unterricht auf meine Freunde zu warten, sofort dem Mädchen folgen und mit ihr ein Gespräch beginnen sollen.
Statt mit den anderen über sie zu lachen, hätte ich sofort mit ihr reden sollen.
Statt mit meinen Freunden, mit denen ich nahezu jede Sekunde der Schulzeit verbrachte, den Vortrag zu machen, hätte ich bei ihr bleiben und ihr Gesellschaft leisten sollen.
Statt das Gespräch mit ihr zu beenden und auf die dummen, unbegründeten Aussagen meines Sitznachbarn zu hören, hätte ich sie weiter fragen und ihr meine Hilfe anbieten sollen.
Statt mit meinen Freunden auf den Hof zu gehen, hätte ich mir eine Sekunde Zeit für das Apfelmädchen nehmen sollen.
Statt auf die Worte der Krankenschwester zu reagieren, hätte ich auf mein Mitgefühl reagieren sollen und sofort zu dem Apfelmädchen ins Zimmer gehen und ihr Unterstützung leisten sollen.
Statt sich mit meinen Freunden zu vergnügen und meine Augen zu verschließen, hätte ich sie bloß für eine einzige Sekunde öffnen und das Offensichtliche sehen sollen.
Denn das hätte sie gebraucht. Jemanden, der ihr zuhört, für sie da ist und sie nicht - wie alle anderen - enttäuscht. Jemand der ihr Hoffnung gibt, da sie sich diese selbst nicht geben konnte. Denn auch, wenn alle anderen aus meiner Klasse sie ignorierten, hieß das nicht, dass ich das Gleiche tun sollte.
Vielleicht war ich sogar noch schlimmer als die anderen Mitschüler. Denn sie kannten ihre Probleme nicht und wussten daher nicht, wie ernst die Lage war. Ich kannte all die Hintergründe und hatte trotzdem nichts getan.
Nun war es zu spät.
Während sich meine Freunde über die Nachricht, die uns heute erreicht hatte, lautstark unterhielten, fragte ich mich, wie ich nur so blind hatte sein können.
»Warum bist du so still heute?«, fragte mich ein Freund auf der Hofpause.
»Ja, genau, hast du denn gar nichts zum Tod des Apfelmädchens zu sagen?«, kam nun ein anderer an.
»Du musst doch zugeben«, begann nun ein Dritter, »dass es ziemlich armselig ist, sich selbst umzubringen. Wie tief muss man bitte gesunken sein?«
Doch anstatt bei meinen Mitschülern zu bleiben, weiter den unqualifizierten Kommentaren zuzuhören und weiterhin dem Zwang nachzugeben, löste ich mich endlich aus der Gruppe und lief zum Apfelbaum.
Und ich pflückte mir einen Apfel und ging.
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Das Nachwort folgt.
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Apfelmädchen
Short StorySie pflückte sich einen Apfel und ging. Das tat sie jeden Tag. Jeden, bis auf den letzten. - 2. Teil: "Birnenjunge" - {#22 in Kurzgeschichten; 05.04.18}