Wir- Teil 1

1K 12 2
                                    

Der alte Mann schaute mich aus müden, feuchten Augen an. Ich war mir sicher, dass er längst im Bett gewesen wäre, wenn ich ihn nicht aufgehalten hätte. Doch er hätte mich ja nicht einlassen müssen. Und ehrlich gesagt, war ich zu ängstlich, um im Dunklen da draußen herum zu rennen. Zu leicht wäre es, abzustürzen und so ganz einsam, wie es schien, war es hier oben bestimmt nicht.

„Sie wollen wirklich dort hoch?", fragte er, während er ein Bierglas polierte.

Ich drehte meines zwischen den Fingern. Überlegte, warum er mich nicht erkannte, aber vielleicht war er einfach vergesslich.

„Ja, die Hütte gehört mir", antwortete ich also.

Er schüttelte den Kopf, als hätte ich etwas wahrlich Dummes gesagt.

„Nah, die gehört dem Wagner", entgegnete er ungläubig.

„Ich bin seine Frau." 

Nun blitzte Erkenntnis in seinen Augen auf.

„Ja, das gibt es doch nicht!", stieß er hervor. "Die Anna Wagner! Hab dich ewig nicht gesehen! Aber...ich dacht', ihr seid's geschieden, nach... naja...", endete er stockend.

„Nein, Thomas und ich waren nur...getrennt. Er weiß nicht, dass ich komme...wie auch."

„Und ich hab mich schon g'wundert, so eine nette Dame, ganz allein in den Bergen unterwegs. Der Tom war nicht mehr bei mir, seit..."

Er überlegte. Nun, unser Hof lag ebenfalls weit ab von dem nächsten Dorf, und auch dort hatten wir seit Monaten nichts von Tom gehört. Meine vierundachtzigjährige Schwiegermutter hatte gemeint, man solle doch mal nach ihm schauen. Dann war sie wieder in ihre Alters- Verwirrung versunken. Leopold, der Besitzer des „Gasthofes am Ende der Welt", wie Tom diese Wirtschaft hoch in den Bergen immer genannt hatte, räusperte sich und sinnierte:

„Vor Weihnachten war er hier gewesen. Ich hatte mich gewundert, dass er's beim Schnee hier runter geschafft hatte."

Hatte. Er redete schon in der Vergangenheit von meinem Mann. Dabei war ich niemals auch nur davon ausgegangen, dass Tom vor mir sterben würde, da ich zehn Jahre älter war als er. Nur war ich die Erbin eines großen Gutes und er verarmt gewesen, sodass er mich, die olle Jungfer, hatte heiraten müssen.

„Ich bin müde, Kind", gähnte Leo. „Mach's dir in einem der Zimmer gemütlich."

Ich bedankte mich und suchte das nächste, winzige Zimmer auf. Es bestand nur aus einer Pritsche und einem Stuhl, eine alte Öllampe hing an einem Haken an der Decke, ja, hier war die Zeit stehen geblieben. Es sah immer noch so aus, wie vor achtzehn Jahren, als Tom und ich unsere Flitterwochen oben auf der romantischen Berghütte verbracht hatten.

Nun ja, ich war mit achtundzwanzig keine Jungfer mehr gewesen und wäre deswegen fast enterbt worden. Der damals achtzehnjährige Tom hatte ebenfalls einen bekannten Namen in unserer Gegend gehabt, doch seine Familie hatte alles verloren, als der Vater gestorben war und sie hatten in die Stadt ziehen müssen, um überleben zu können. So war die Idee meines Vaters gewesen, entweder heiratete ich Tom, um unseren Namen wieder rein zu waschen, oder ich würde als gefallene Frau in die Verbannung geschickt werden. Mein Vergehen lag damals allerdings schon neun Jahre zurück, ich hatte mich mit neunzehn Jahren in einen Schausteller verliebt gehabt und danach keine weiteren Liebhaber gehabt, weil ich von diesem einen noch zu verwundet gewesen war. Hatte ihn mit sechzehn kennen gelernt gehabt, er hatte mir den Kopf verdreht und mich seine Zeche zahlen lassen. Hatte über meine Schwärmerei gelacht, wie ich erst später erfahren hatte. Nachdem er mir mit Neunzehn im betrunkenen Zustand die Jungfräulichkeit geraubt hatte, war er verschwunden gewesen und mein Vater hatte ein Riesentheater gemacht. Er hatte mir gedroht, wenn ich nun schwanger wäre, würde er mich umbringen. Ich war es zum Glück nicht gewesen und hatte der Männerwelt abgeschworen, mich fortan nur in die Arbeit gestürzt, um meinen Vater wieder zu besänftigen. Es war mir gelungen, doch ständig hatte er mir in den Ohren gelegen, zu heiraten. Der geeignete Kandidat jedoch hatte erst volljährig werden müssen....

I dreamed of a tall man twiceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt