Wir- Teil 6

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„Nein. Bitte, tu das nicht", flüsterte ich. „Ich hab's nicht so gemeint. Es tut mir leid, ich...war nur so wütend, ich weiß ja, dass..."

Der Pfleger nahm den Brief, drückte ihn in meine Hand und schob mich zur Tür.

„Frau Wagner, gehen sie jetzt. Schreiben sie ihrem Mann, hier ist nicht der richtige Ort."

Und schon wieder war ich nach dem Besuch in der Klinik nicht mehr fähig, Auto zu fahren! So rief ich Vreni an, die zwar gerade zum Baumarkt wollte, um Tapeten für ihr Häuschen einzukaufen, aber sie kam mich sofort holen. Fragte während der Autofahrt nicht nach, nur, ob ich Unterstützung bräuchte, was ich verneinte, setzte mich dann ab und fuhr zum Baumarkt. Ich zog mich sofort ins Schlafzimmer zurück und schloß mich ein. Hatte den Impuls, Tom's Brief gar nicht erst zu lesen. Wie sollte ich den Mädchen erklären, dass ihr Vater uns nicht mehr wollte? Nein, ich tat ihm unrecht. Tom wollte uns bestimmt nicht zur Last fallen. Ja, genau das würde in diesem Brief stehen. Er wolle uns nicht mehr quälen. Wir sollten ihn vergessen und neu anfangen, oder so ähnlich. Ich schluchzte auf. Schaute auf unser Hochzeitsfoto und musste trotz allem über sein miesepetriges Gesicht schmunzeln. Ich dagegen lächelte verträumt und blickte diesen hübschen Jüngling bewundernd an. Ja, es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, so, wie es in den Büchern stand. Und genau dieses Gefühl war immer noch genauso stark, wie damals. Nicht mal in der Hütte hatte es abgenommen, nicht mal in den Tagen, als ich hier alleine getrauert hatte. Meine Wut auf Tom hatte nur bezweckt, dass ich ihn noch mehr liebte. Ich raufte mir die Haare, schrie leise auf, weil alles so verdreht war in meinem Kopf! Dann nahm ich den Brief und rannte in die Scheune, setzte mich an Tom's Lieblingsplatz und öffnete den Umschlag.

„Liebste Anna,

dies ist nun der achte Versuch, ein paar vernünftige Zeilen zu schreiben. Und ich hatte Literatur studieren wollen! Doch alles, was da oben mal drin war, ist nur noch eine düstere, wabbelige Masse, voll von paradoxen Gedanken und Erscheinungen. Ja, du liest richtig, ich weiß, dass ich mir Vieles einbilde, dass es nicht echt ist. Dass du meinen Sohn nicht entführt hast. Aber andererseits meint die Stimme in meinem Kopf, dass ich mich nicht von deinen hübschen Augen austricksen lassen sollte. Es ist Wahnsinn, im wahrsten Sinne! Sobald ich meine Augen öffne, sobald mein Bewusstsein anspringt, werde ich hin- und her geschaukelt, wie eine Nussschale auf tobender See. Meine Gedanken zerren an mir und gleichzeitig spüre ich die Wolke durch die Medikamente, die sie mir geben. Ich fühle mich, wie betrunken, kann kaum noch sprechen, aber sobald sie mir weniger geben, werden die Stimmen lauter. Ich höre Felix. Er ruft mich, aus der dunklen Erde. Sechs Meter tief, wie du gesagt hast. Ich muss dir sehr egoistisch vorkommen, oder? Dich damit alleine zu lassen und auch noch wahnsinnig geworden zu sein. Du musst mit den Leuten sprechen, nicht ich. Musstest die Trauergäste tapfer anlächeln, die Mädchen trösten. Ich sitze hier, warm und sicher, habe drei Mahlzeiten am Tag und einmal in der Woche einen Einlauf, damit sich nicht nur die verstopften Essensreste lösen. Sie meinen, dadurch wäre man befreiter. Sie schicken immer die kleinen Schwesternschülerinnen, denen es unheimlich peinlich ist, mir ein Rohr in den Hintern zu schieben. Ich tue meistens so, als sei ich abgeschossen. Damit sie sich nicht ganz so mies fühlen. Zum Glück will der Doc den Brief nicht lesen, er meinte, er vertraue mir, dass ich nichts über die Klinik schreibe, nun habe ich es doch getan. Und habe schon wieder den Faden verloren. Was wollte ich dir sagen? Dass ich verstehen kann, dass du wütend warst, weil ich ein kranker Egoist bin. Und es mir leid tut. Ich kann mich nicht daran erinnern, was am Grab passiert ist. Nur schemenhaft, ich erinnere mich an dein wunderbares Lächeln und an die Stimme, die gesagt hat, traue ihr nicht. Und an deinen Geruch. Den Wunsch, in dich hinein zu kriechen und beschützt zu sein. Vor den Dämonen in mir, klingt doch irre, oder nicht? Du kannst mich nicht retten. Ich kann mich nur selbst retten, aber das ist doch schon wieder reine Selbstverherrlichung. Er da oben schweigt sich aus, ich habe gebetet, gefleht, er möge die Stimmen verstummen lassen. Wenn ich bete, werden sie lauter!

I dreamed of a tall man twiceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt