Kapitel 4

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Kapitel 4

"Meine Mitbewohnerin weiß wo ich bin. Ich habe Pfefferspray in der Tasche und wenn ich mich nicht jede halbe Stunde bei ihr melde, wird sie wissen dass mir etwas passiert ist und die Polizei rufen. Ich habe ihr die Adresse gesagt und sie hat 110 in der Kurzwahlliste eingespeichert!" Die Worte sprudelten in atemberaubender Geschwindigkeit aus mir heraus.


"Dir auch einen schönen guten Tag." Vor mir im Türrahmen lehnte Richard, seine eisblauen Augen auf mich gerichtet mit einem überheblichen Grinsen im Gesicht.
Ich atmete tief durch und klammerte mich an den Griff meiner Handtasche, als sei er ein Rettungsring, während ich tapfer zurück starrte. Ja, ich hatte mich entschieden, Christinas so genannte "Einladung" anzunehmen und zu ihnen zu fahren. Als ich morgens aufgewacht war, hatte ich einsehen müssen, dass es eigentlich keine wirkliche Alternative gab. Die beiden hatten mich schon viel zu sehr um ihren Finger gewickelt. Ich war nicht naiv genug um zu glauben, dass es hier tatsächlich nur um einen Job ging, aber ich war einfach viel zu neugierig. Ich konnte nicht leugnen, dass mein Kopfkino den ganzen Tag über höchst erotische Szenarien gesponnen hatte, von denen keins auch nur im Geringsten mit Putzen zu tun hatte.


"Es freut mich, dass du gekommen bist. Komm doch rein." Er trat zur Seite und machte eine einladende Geste ins Innere des Flures. Ich atmete noch einmal tief durch. Jetzt bloß keinen Rückzieher machen.


"Wenn du mir blöd kommst, bin ich gleich wieder weg!" Er hob eine Augenbraue, ließ das Gesagte aber unkommentiert. Es fühlte sich überraschend natürlich an, sich mit ihm zu duzen. Da er das so selbstverständlich getan hatte, sah ich ebenfalls keinen Grund, weiter an der Förmlichkeit festzuhalten.
Ich konnte meinen Herzschlag praktisch auf der Zunge schmecken als ich an ihm vorbei trat. Unsicher stand ich da und klammerte mich weiterhin an meiner Tasche fest, was ihn zu amüsieren schien.


"Du darfst deine Jacke und deine Schuhe ruhig ausziehen." Ich hasste diesen Spott in seiner Stimme, verkniff mir aber den Kommentar. Stattdessen stellte ich meine Sachen ab und zog meine Sachen aus. Nervös bemerkte ich, wie sich die feinen Härchen auf meinen Armen aufstellten, weil ich ihn ganz genau in meinem Rücken spürte, so als würde er mich mit seinen Blicken berühren.


"Du siehst gut aus." Ich trug eine schlichte Jeans und eine weinrote Bluse, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er nicht bloß meine Klamotten meinte. Natürlich wurde ich prompt wieder rot.


"Danke."


"Lass uns ins Wohnzimmer gehen." Er trat an mir vorbei und ging den Flur entlang, ich folgte ihm unsicher. Im Wohnzimmer stockte ich kurz. Es sah...anders aus, als ich es erwartet hätte.
Was ich bisher von Richard und Christina erlebt hatte, war immer sehr kalkuliert und berechnend gewesen, was vermutlich auch der Grund war, weshalb ich damit gerechnet hatte, dass auch ihr Haus sehr klinisch und kalt sein würde, aber dem war überhaupt nicht so. Der Raum war in sehr warmen Farben gehalten. Die Tapeten hatten einen warmen Terracotta-Farbton, der perfekt durch die voluminösen gelben Vorhänge ergänzt wurde. Still bewunderte ich ihre Stilsicherheit, denn ich war mir sicher, dass diese Farbkombination auch hätte daneben gehen können. Trotzdem sah der Raum nicht aus wie aus einem Möbelkatalog, sondern als würden hier tatsächliche Menschen leben. Der quadratische Teppich, ebenfalls in Braun- und Beigetönen, war leicht verrutscht, die Kissen waren unordentlich auf einer Seite des grauen Sofas gestapelt, vor dem Fernseher lagen einige offene DVD-Hüllen herum, einige der Topfpflanzen hatten schon braune Blätter und überall standen Bilderrahmen und es lagen Bücher herum. Es war...gemütlich. Man konnte es einfach nicht anders sagen.
Mein Blick fiel auf Christina. Sie saß auf der grauen Couch, die Füße angewinkelt, umringt von einer Unmenge bedruckter DIN A4-Zettel. Sie schien uns gar nicht bemerkt zu haben, sondern war völlig in ihre Arbeit vertieft. Sie trug eine Lesebrille mit elegantem schwarzen Rahmen und hatte die Stirn gerunzelt, während sie gedankenverloren mit der Kappe eines roten Stifts spielte. Sie stieß ein frustriertes Knurren aus.

Don't Judge MeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt