Kapitel 4

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„Hast du es schon immer gewusst?", fragte ich. Wir befanden uns in meinem Zimmer. Mein Kopf lag in Gellerts Schoß und er ließ eine Feder Stichpunkte über den Stein der Auferstehung auf ein loses Blatt Pergament kritzeln.

Er sprang mühelos auf meinen Gedankenzug auf. „Dass ich keine Mädchen mag? Nicht immer, nein. Aber in der Schule ist es mir bald klar geworden." Er legte den Zauberstab beiseite und begann stattdessen, mit meinen Haaren zu spielen. „Du warst wohl ziemlich überrascht, hab ich recht?"

„Ist das so offensichtlich?"

Er gluckste. „Für mich schon. Aber keine Sorge, ich fand es sehr einnehmend." Er verfiel in Schweigen und strich nachdenklich immer wieder durch mein Haar und über die paar Bartstoppeln auf meinem Kinn. „Aber hattest du denn in der Schule nie ... na ja, jemanden?"

„Nein", sagte ich. „Ich war immer vollauf zufrieden mit der Schularbeit und den außerschulischen Aktivitäten. Und dann kümmerte ich mich um die wenigen Freundschaften, die ich aufgebaut hatte. Für mehr war keine Zeit. Und ich wollte es auch nie."

Er grinste verschmitzt. „Bis ich kam."

„Bis du kamst." Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Du hast wohl mehr Erfahrungen gesammelt, vermute ich."

„Wie so oft sind deine Vermutungen richtig", erwiderte Gellert gelassen. „Ich hatte den einen oder anderen festen Freund in Durmstrang. Keiner von ihnen konnte meine Aufmerksamkeit lange beanspruchen. Bei dir mache ich mir da keine Sorgen."

Wieder schwiegen wir eine Weile und hingen unseren Gedanken nach. Ich beobachtete Gellert. Er wirkte angespannt.

„Apropos Durmstrang", begann er schließlich, ohne mir in die Augen zu sehen. „Ich muss dir etwas gestehen. Ich bin nicht ganz ehrlich zu dir gewesen und das tut mir leid."

So ernst kannte ich ihn gar nicht. Alarmiert setzte ich mich auf und nahm seine Hände in meine. „Es ist in Ordnung, Gellert", sagte ich beruhigend. „Du kannst mir vertrauen."

Er lächelte schwach. „Als wir uns das erste Mal begegnet sind, drüben bei meiner Tante, und sie sagte ich käme aus Durmstrang - was hast du da gedacht?"

Ich erinnerte mich genau, als wäre es gestern gewesen. „Ich dachte, du siehst jünger aus als neunzehn. Aber mir schien es eine gute Erklärung zu sein, dass du deinen Abschluss ein paar Jahre früher gemacht hast."

Er schnaubte. „In Durmstrang lassen sie dich deinen Abschluss nicht früher machen. Und ich denke, das weißt du."

„Du bist besonders, Gellert, ich dachte sie hätten eine Ausnahme gemacht."

Er bekam einen bitteren Zug um den Mund. „Die Wahrheit ist, sie haben mich rausgeworfen. Letztes Jahr. Ich habe nie meinen Abschluss gemacht. Bathilda weiß nichts davon und das soll auch so bleiben, in Ordnung?"

Ich konnte ihn eine halbe Minute lang nur wortlos anstarren. „Du bist rausgeflogen? Wieso?"

Er entzog seine Hände den meinen und stand auf, um durchs Zimmer zu tigern. „Hör zu, ich habe Experimente gemacht. Es erschien mir wichtig. Unsinn, es war wichtig. Du weißt sicher, dass sie in Durmstrang die dunklen Künste unterrichten und es hatte damit zu tun. Ein paar Schüler sind zu Schaden gekommen - und - ja, ich - weißt du, was ich denke?" Er schaukelte sich immer weiter auf und gestikulierte wild. „Manchmal, wenn es um das größere Wohl geht, müssen eben Opfer gebracht werden. Findest du nicht?"

Darüber dachte ich ernsthaft nach. „Doch", sagte ich schließlich, „ich stimme dir zu. Dabei muss nur immer die Größe des Opfers der des Wohls gerecht werden, verstehst du?"

Einen Sommer LangWo Geschichten leben. Entdecke jetzt