Brüder?

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Die Deckenlampe flammte auf und warf harte Schatten auf die Bandplakate im Flur. Milan schmetterte die Wohnungstür hinter sich zu und stöhnte leise. Er hatte viel zuviel getrunken. Aber nicht zuviel, um noch ein paar Zeilen zu schreiben. Fluchend streifte er die Stiefel ab und schleuderte sie auf die dunklen Holzdielen. Er polterte in die Küche, ließ sich ein großes Glas voll Leitungswasser ein und wartete, dass der Schwindel sich legte. Dann zog er ins Arbeitszimmer um.

Er hatte Jules die Wahrheit gesagt: Er wohnte in einer Zweizimmerwohnung. Beide Zimmer waren gigantisch. Sein Schreibtisch wirkte fast verloren in der Mitte des riesigen, von Bücherregalen gesäumten Raums mit den hohen Stuckdecken. Milan ließ sich im Ledersessel davor nieder und klappte den Laptop auf. Das Licht ließ er aus. Er schrieb gern im Dunkeln. Seine Texte wurden besser, wenn er nicht ahnte, was in den Ecken des Raums lauerte. Zumindest bildete er sich das ein.

Seufzend versuchte er, sich darauf zu konzentrieren, was er zuletzt geschrieben hatte. Der todkranke Detektiv hatte seinen Nachbarn gefunden, erstickt an einer Einhornspardose, die eine besondere Bedeutung hatte. Welche, das wusste Milan noch nicht. Rob plante seine Romane im Voraus, er nicht. Er liebte es, sich ins Unbekannte zu stürzen und erst beim Schreiben zu erfahren, wohin die Reise ging. Schritt für Schritt das Geheimnis zu erfahren, genau wie damals, als er auf Jules' Bett gesessen und Seite an Seite mit ihm gelesen hatte ...

Milan war so ein Trottel gewesen. Einmal hatte er darauf bestanden, dass er unbedingt das Buch lesen musste, das Jules gerade las, nur, damit sie gemeinsam die Köpfe hineinstecken mussten. Nur, damit er Jules' Geruch nach warmer, scharf gewürzter Milch riechen konnte. Nur, damit er sich vorstellen konnte, die letzten paar Zentimeter zu überbrücken und seine Wange zu küssen. Seine Wange! Schwer zu glauben, dass er einmal so unschuldig gewesen war. Damals hatte er sich ein Kissen in den Schoß drücken müssen, damit Jules nicht merkte, wie er auf ihn reagierte.

Vielleicht hat er es gemerkt, dachte Milan. Ich war nie so schlau, wie ich geglaubt habe. Damals nicht und heute erst recht. Wahrscheinlich hat er es gemerkt und nichts gesagt. Jules war immer höflich, sogar als Teenager.

Der hatte stets gewartet, bis Milan ebenfalls am Ende der Buchseite angekommen war, bevor er umgeblättert hatte. Egal, wie lange es gedauert hatte, dank Milans Doppelbelastung aus schlechtem Lesevermögen und verzweifelter Erregung.

Der Nachbar, dachte Milan. Die Einhornspardose. Konzentration. Was ist sie? Ein Erinnerungsstück? Eine Botschaft? Was für eine Botschaft? Ob Jules immer noch mit dieser Frau zusammen ist? Sie haben glücklich ausgesehen, aber das ist lange her. Vielleicht ... Ja klar. Vielleicht haben sie sich getrennt und dass ihr euch heute zufällig getroffen habt, ist Schicksal und ihr seid füreinander bestimmt. Schreib doch ein Buch darüber. Du könntest Rob Konkurrenz machen mit dem Kitsch.

Wütend starrte er auf den Bildschirm. Er hätte mit in die Manobar gehen sollen. Was aufreißen. Sich den Gedanken an Jules aus dem Schädel ficken. Jules, der zum Anknabbern ausgesehen hatte. Zum Anbeißen, zum Anbeten. Ein tiefes Knurren entkam Milans Kehle.

»Was ist mit der Scheiß-Spardose?«, fragte er und tippte es auch gleich ein.

»Es ist ein altes Modell«, sagte der Schwächling vorsichtig. Wie war so einer Polizist geworden? Als Berger noch selbst aktiv gewesen war, hatten sie einen Namen für solche Luschen gehabt. Warmduscher. Waschlappen. Kanonenfutter Aber heute nahmen sie anscheinend jeden in die Truppe auf.

»Und weiter?« Berger machte einen Schritt auf den Mickerling zu. Der sah aus triefenden Welpenaugen zu ihm auf.

»Mehr wissen wir noch nicht.«

Er erinnerte Berger an jemanden ... Richtig, an seine eigene Mutter. Die hatte auch so geschaut, als wäre die Welt gemein zu ihr und als hätte sie keine Ahnung, was alle von ihr wollten. Egal, wie viel Scheiße sie gebaut hatte. Damals als sie mit diesem Kerl zusammengekommen war, auch so einem Waschlappen, dem Filialleiter in dem Supermarkt, in dem sie damals gearbeitet hatte ...

Milan - Dichte Dichter 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt