Verarbeitung, Teil 2: Saufen

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Das verdammte Handy klingelte schon wieder. Milan blinzelte. Wie lange hatte er geschrieben? Hinter dem Fenster war es längst dunkel, seine Schultern schmerzten und sein Kopf fühlte sich an, als sei er mit Watte gefüllt. Robs Name blitzte auf dem Display auf.

»Hey.« Oh, und seine Stimme klang, als hätte er sie seit dreißig Jahren nicht benutzt. Sein Rachen schien mit Spinnweben verklebt zu sein. Zeit für eine Pause.

»Geh auf Amazon. Sofort«, befahl Rob statt einer Begrüßung.

»Warum?«

»Frag nicht, mach einfach.«

»Okay«, sagte Milan und machte nichts.

»Gut, jetzt geh auf die Bestseller, klick auf »Liebesromane« und ...« Rob lachte. »Was sagst du?«

»Ui.« Milan klickte nun doch. Das Cover an der Spitze war roséfarben, verschnörkelt und kam ihm bekannt vor. »Glückwunsch, Miss Nightshade. Schon wieder Nummer Eins?«

»Ja, verdammt.« Lauteres Lachen. »Hast du etwas anderes erwartet?«

»Nö.« Milan ließ den Kopf kreisen. »Freut mich. Der Verlag ist begeistert, was?«

»Aber selbstverständlich.« Robs Grinsen war so hörbar, dass Milan es fast vor sich sah. »Und ich auch. So begeistert, dass ich euch Hanseln ein Bier ausgebe. Sofort. Valentin und Eva haben schon zugesagt. Du kommst mit, klar?«

»Was ist mit Zebulon?«

»Lenk nicht ab. Du weißt genau, dass der in Lima ist.«

»Ja.« Milan rieb seine Nasenwurzel. »Ach, was soll's. Ich brauch eh 'ne Ablenkung von dem ganzen Scheiß hier.«

»Dem ganzen Scheiß? Oh« Rob wurde ernster. »Valentin hat sowas angedeutet. Dein Ex-Bruder hat dich abblitzen lassen, als du ihm alles gebeichtet hast, richtig? Sorry.«

Milan schwieg. Sollte er Rob auf den neuesten Stand bringen? »Ich komme nur, wenn wir nicht darüber reden.«

»So schlimm also. Das tut mir leid.«

»Und mir erst. Wo willst du hin? Ins Hemingways?«

»Wohin sonst?«

»Gut, bis gleich.«

Er hoffte wirklich, dass Rob die Klappe hielt. Wenn er gerade irgendetwas nicht vertragen konnte, dann waren das blöde Fragen. Was er brauchte, war ein Bier. Viel Bier. Und Gesellschaft. Wenn er noch länger hier in der Dunkelheit saß, würde er depressiv werden.

Jules, dachte er. Einfach so, wie aus einem alten Reflex. Dessen Gesicht zuckte durch sein Gehirn. Jules' Gesicht auf dem verdammten Familienfoto, neben seiner Frau, seine Tochter auf den Schultern.

Milan knurrte leise, stand auf und fand seine Lederjacke auf dem Boden. Die staubigen Schuhe hatte er anbehalten, also war er ausgehfein. Noch während er die Haustür öffnete, klaubte er den Tabak aus seiner Tasche.

Und stand vor Jules.

Der rappelte sich vom Boden hoch, auf dem er gesessen hatte und starrte ihn an.

»Hey«, sagte Jules. »Du ... du bist ja doch hier.«

»Gleich nicht mehr.« Milans Stimme gehorchte ihm noch. Gut. Sie klang eiskalt. Noch besser. Er stiefelte an Jules vorbei und auf die Treppe zu. Schnelle Schritte. Jules holte ihn ein.

»Milan, ich muss mit dir reden.«

»Nein, danke.«

»Bitte.« Ein blasses Gesicht erschien neben ihm. »Das heute morgen, das war anders als du denkst.«

Milan - Dichte Dichter 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt