3. Kapitel

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Ellen zögerte. Sie musste augenblicklich aus der Klinik verschwinden. Der Mörder des Mädchens konnte nicht weit sein oder sie schon mit offenen Armen empfangen, wenn er auch nur das kleinste Geräusch von ihr wahr genommen hatte.

Hastig lief sie durch den Raum voller Medikamente zurück auf den Flur. Doch plötzlich stockte ihr Atem und sie blieb vor Schreck wie angewurzelt stehen. Wieder hörte sie dumpfes Geräusch, welches in gleichmäßigen Abständen ertönte. Jedoch konnte sie es dieses mal zuordnen. Schritte!

Kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn und ihre Augen waren weit vor Entsetzten geöffnet, als sie einen Schatten am Ende des Flurs erkannte, der immer näher auf sie zu kam. Fest hielt sie den Dolch in ihrer Hand umklammert und lief so schnell sie konnte zur Treppe auf die andere Seite des Ganges. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass auch die andere Person, von der der Schatten stammte, sie inzwischen entdeckt hatte, um die Ecke bog und ihr den Gang hinunter folgte. Immer zwei Stufen nehmend sprang Ellen hektisch die Treppen in das fünfte Stockwerk hinauf.

»Warte. Bleib stehen!«, hörte sie einen Jungen schreien. Er klang panisch, jedoch war sie nicht bereit für eine Masche ihr Leben zu opfern und bog luftringend in den ersten Flur der Etage ein.

Doch zu ihrem Entsetzen stand am Eingang des Ganges eine weitere Person, die zum Fenster hinaus in die Stadt spähte. Ein Junge ihres Alters mit dunkelbraunem verzaustem Haar und löchrigem, blutverklebten Shirt, der sie nun genauso verstört und geschockt anstarrte, wie sie ihn.

Ohne Zweifel war sie sich sicher, dass er es gewesen war, der das junge Mädchen ermordet haben musste, woher sonst würde das frische Blut an seinem Ärmel stammen? Die Wut begann in ihr zu brodeln, als sie das Bild des Mädchens erneut vor ihren Augen sah, wie es hilflos mit ausdrucksloser Mine am Boden lag. In ihrer Hand das einzige, womit sie sich hätte wehren können, doch nicht einmal dazu hatte sie eine Chance.
Doch ihre Gedanken wurden unterbrochen, als sie weitere Schritte wahrnahm, die die Treppe hocheilten. Schnell wirbelte Ellen herum.

Gegen zwei von ihnen könnte sie es nicht aufnehmen, weshalb sie nun schnell handeln musste. Mit dem Dolch in ihrer rechten Hand ging sie auf den Jungen zu und fasste einen Entschluss, als der sich immer weiter Schritt für Schritt von ihr distanzierte.

Doch in dem Moment, wo sie kurz vor ihm stand fuhr durch ihren Körper ein krampfhafter Stich, der sie zu Boden sinken ließ. Mit Schmerz verzerrtem Gesicht ließ Ellen ihren Dolch auf die Fliesen fallen und drückte mit ihren Handfächen gegen den Bauch, von dem aus sich eine Wunde bildete und zu wachsen begann. Mit jeder Sekunde wurden die stechenden Schmerzen unaushaltbarer und ließen Ellen schreiend am Boden liegen, ohne, dass sie sich in der Lage fühlte etwas dagegen tun zu können. Höllische Qualen zuckten durch ihre Gliedmaßen, ließen keine Gnade walten.

»Alexander!«, fuhr der Junge ihn mit ungläubiger Stimme an, als er außer Atmen den Flur betrat. Er schaute entsetzt auf Ellen und versuchte sich selber durch einen tiefen Atmemzug zu beruhigen.

»Hör auf damit. Du tust ihr weh! Wenn du nicht aufhörst wird sie sterben«, redete er mit ruhigem, aber kräftigen Ton auf Alexander ein, der sie noch immer mit den Augen schockiert anstarrte, als könnte er selbst kaum glauben, was sich vor ihm abspielte.

»Sie stirbt«, hauchte er ihm erneut entgegen. Das Bild um Ellen schien langsam zu verschwimmen, während sie auf dem Boden kauerte und versuchte bei Bewustsein zu bleiben. Blut sickerte aus einer ihrer Handflächen und durchnässte ihr Shirt, als es sich langsam um sie herum auf dem Boden verteilte.

Alexander zitterte am ganzen Körper. Krampfhaft versuchte er seine Augen von dem gausamen Bild, was sich vor ihm ergab, abzuwenden. Doch sobald er sie schloss, spielte es sich immer weiter ab, unterlegt von den qualvollen Schreien des Mädchens.

»Willst du, dass ihr das gleiche widerfährt, wie deiner Mutter?«, hakte der andere Junge abermals hinterher, als Alexander nicht antwortete und schaute ihm direkt in die Augen.
Bei den Worten seines Freundes wandelte sein Ausdruck schlagartig von Panik zu Trauer, während eine alte Erinnerung in seinen Gedanken erschien, die dazu führte, dass er dem Blick nicht länger standhielt.

Ellen rang nach Luft. Der Schmerz ließ langsam nach, wodurch ihr Körper sich anfing zu entkrampfen. Sie blickte um sich herum, doch das einzige was sie erkannte war, wie der Junge vor ihr an einer Wand zusammen brach und ausdruckslos in die Leere starrte. Sein Freund bewegte sich währenddessen kaum merklich auf sie zu, hockte sich neben ihr auf den Boden und zog ihr Shirt nach oben, um sich die Verletztung näher anzugucken.

»Bitte bleib ruhig liegen. Ich will dir helfen, vertrau mir«, flüsterte er ihr leise zu und blickte auf ihre tiefe Wunde. Hilfesuchend blickte sie sich angestrengt in der Dunkelheit um und sah ihre Rettung direkt vor ihr.

»Von wegen!«, fauchte sie ihn an, griff nach dem Dolch, der wenige Zentimeter neben ihm lag und stieß ihn mit wenig Kraft in den Oberschenkel des Jungen. Vor Schreck Schrie dieser auf und fiel rückwärts gegen die Wand des Flurs.
Das war ihre Chance! Mit ihrer letzten Kraft drückte sie sich vom Boden ab und taumelte den Flur entlang. Währenddessen hörte sie ihn fluchen, als er mit zusammengebissenen Zähnen den Dolch aus seinem Bein zog und versuchte ihr hinkend zu folgen.

Sie drehte sich hektisch um, als seine Schritte dumpf von den Wänden widerhallte, wobei sie selber fast über ihre eigenen Füße fiel und stolperte in ein zufälliges Zimmer hinein.

Es war ein altes Krankenzimmer, welches mit einer kleinen Küche, Tisch und einem Balkon ausgestattet war. Der Boden war mit Staub versehen und Spinnenweben hingen wie Deko von der Zimmerdecke hinunter. Hastig lief sie, mit einer Hand stützend an der Wand entlang, zur Tür die zum Balkon führte und griff nach dem silbern glänzenden Knauf, um sie zu öffnen. Doch als sie ihn betrat bemerkte sie erst, dass er stark beschädigt war.

Das Geländer war an den Unterkanten abgebrochen und verrostet, sodass er ihr keinen Schutz mehr bot, zudem zogen sich einige Risse durch den Steinboden hindurch, die drohten nicht mehr länger unter ihren Füßen zu halten.

Als sie sich jedoch schwankend umdrehte, sah sie, wie der Junge durch die Tür gelaufen kam und stockte. Blut lief an seinem Oberschenkel hinunter und tropfte auf die staubigen Fließen. Stückweise begann er sich ihr langsam zu nähern. Ellen wollte ihren Dolch aus der Tasche ziehen, um ihn auf Abstand zu halten, allerdings fiel ihr auf, dass sie ihn bereits zu einem anderen Zweck gebraucht hatte, dessen Ergebnis sie ihr vor ihren Augen sah. Aus Reflex ging sie mehrere Schritte angsterfüllt zurück und bemerkte nicht, wie sie sich dem Ende des Balkons näherte.

»Halt! Geh keinen Schritt weiter zurück. Hörst du?«, rief er ihr warnend zu und deutete mit seinem Finger auf den Abgrund hinter ihr, doch es war zu spät. Ellen verlor das Gleichgewicht und trat ins nichts.

»Ellen! Nein!«, schrie er hinter ihr her, lief auf den Balkon und sah sie in die Tiefe gleiten. Abrupt drehte er sich um und stürmte aus dem Raum die Treppe hinunter.

Ein panischer Schrei löste sich aus ihrer Kehle, als sie rasend schnell immer tiefer stürzte und dabei wild mit ihren Händen fuchtelte, in der Hoffnung nach irgendetwas zu greifen. Vergeblich. Sie spürte das Adrenalin, dass in ihren Kopf stieg, je näher sie dem Boden kam und wie er Herz anfing stehen zu blieben. Ellen schloss die Augen. Nur in einem Bruchteil von einer Sekunde würde sie auf den harten Beton aufschlagen. Doch nichts geschah.

Als sie nach unten blickte, stockte ihr Atmen und sie riss erstaunt beide Augen auf. Ellen befand sich unmittelbar drei Meter in der Luft. Sie fühlte, wie die Windströme unter ihr hindurch zogen und sie gleichermaßen auf einer Höhe hielten. Doch dieser Moment hielt nicht lang an, als sie schließlich zu straucheln begann und auf den steinernen Boden prallte.

Ihr Kopf dröhnte und sie nahm nur noch das rascheln der Bäume am Rand der Klinik wahr, bis sie wieder die vertrauten Schritte in ihrer Nähe vernahm. Sie war es leid wegzulaufen und würde in ihrem Zustand den Weg zurück nach Hause nicht lebend bewältigen. Es blieb ihr nur die Option übrig einfach liegen zu bleiben und zu warten auf das was kommen würde.

Langsam schloss sie die Augen, währenddessen ihr eine vereinzelte Träne die Wange herunter lief und sie das Bewusstsein verlor.

Kampf um KredonienWo Geschichten leben. Entdecke jetzt