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Erst am Donnerstag bekam ich wieder einen Brief. Es war eine Zeichnung von mir, wie ich in einer Klasse saß und gelangweilt durch die Gegend schaute. Wer konnte das nur sein? Der Maler musste gestern mit mir in einem Kurs gewesen sein, wie würde er sonst wissen, was ich angehabt hatte und wie ich da gesessen war? Ich dachte sofort an Mike. Nein, mit ihm war ich noch nie in einer Klasse gewesen ... Meine Hoffnung sank weiter hinunter in den Keller. Er war es ganz bestimmt nicht. Am Abend lernten Romy und ich für einen anstehenden Test, der morgen stattfinden würde. In Pflanzenkunde.

Am nächsten Tag - Freitag - sah ich mich die ganzen vier Stunden aufmerksam um, doch alles, was ich bemerkte, war, dass ein Mädchen auf der Schule schwanger war. Ach herrje; ein Verkehrsunfall ... Wortwörtlich.

Morgen war schon der Ball! Und heute wollte ich nach Hause fahren und meine Eltern und meine Großmutter besuchen. Gleich nach dem Mittagessen stieg ich in den Bus und fuhr die Hauptstraße entlang. Nach zwanzig Minuten kam ich an öffnete das quietschende Gartentor, das mein Dad noch immer nicht geölt hatte, obwohl er das schon seit ein paar Jahren machen wollte. Meine Eltern, und eigentlich auch ich, wohnten in einem großen hellblauen Haus mit zwei Balkonen an der Vorderseite. Meine Mum liebt Pflanzen. Überall hatte sie Blumen angesetzt. Bunte Blumenkästen hingen unter den Fenstern und schmückten so das Haus. Ich ging zur Haustür und klingelte. Anscheinend hatte Mama gesehen, dass ich schon da war, denn nach zwei Sekunden hörte ich einen Schlüssel im Schloss. Dann blickte ich in ihre grünen Augen, und vor Freude sprühten aus ihren Fingerspitzen Funken in der gleichen Farbe ihrer Augen. So war das bei jedem, der diese Gabe besaß. Die Augenfarbe bestimmte die Farbe der Funken. Ich hatte lila Augen, also konnte ich lila Funken erzeugen.

"Virginia!", rief Mum und umarmte mich. "Komm rein. Alle warten schon auf dich."

Im Wohnzimmer war mein Papa, den ich ebenfalls mit einer Umarmung begrüßte. Oma Lisa saß im Schaukelstuhl neben dem Sofa und starrte irgendwo hin.

"Hallo, Oma", sagte ich vorsichtig und ging auf sie zu. Sie rührte sich nicht. Unsicher guckte ich Mum an, die schaute mich ratlos an. „Bis jetzt hat sie nicht viel geredet. George und ich wissen auch nicht, wie wir sie zum Sprechen bewegen können. Vielleicht findest es du heraus."

Ich wendete mich wieder meiner Großmutter zu. „Oma Lisa, ich bin's, Virginia. Bitte sag doch was. Kann ich dir etwas bringen? Vielleicht ein Glas Wasser?" Schweigen. Ich hörte, wie Mum den Raum verließ. Ich war alleine mit meiner Oma. Sanft berührte ich ihre Hand. Ihre Haut war kalt und verknittert. Einige Leberflecke waren an ihrem Körper.

„Oma, soll ich dir was erzählen? Willst du? Oder brauchst zu Ruhe?" Noch immer umfasste ich ihre Hand. Vielleicht könnte es was helfen, wenn ich sie ein bisschen ablenkte? Also fing ich einfach an:

„Vor ein paar Tagen habe ich einen Brief bekommen, indem stand, dass mich jemand liebt und mit mir zum Schulball gehen möchte. Er will sich mit mir am Samstag hinter der Bibliothek treffen, und ich weiß nicht, ob ich hingehen soll. Was ist, wenn es eine Falle ist? Und der Ball ist schon morgen. Ich bin schon so nervös! Ich weiß noch immer nicht, wer mein geheimnisvoller Verehrer ist, aber morgen werde ich es erfahren. Auf dem zweiten Brief war wieder ein Spruch geschrieben, dass mich der Verfasser liebt. Doch dieses Mal war es anders. Unter dem Text war eine wunderschöne Zeichnung von mir, wie ich den ersten Brief gelesen habe. Es war in dem Wald gleich neben der Schule und ich bin auf einem großen Felsen gesessen vor einem Bach, der so vor sich hinplätscherte. Die Vögel haben gezwitschert und ihre Liedchen gesungen. Es war ein schöner Moment gewesen. Und dort hat mich irgendwer gezeichnet, ohne dass ich es bemerkt habe." Ich musste lächeln. Oma Lisa tat noch immer nichts. Ich zögerte. Sollte ich weitermachen? Wahrscheinlich hörte sie mir nicht einmal zu. Aber für mich brachte es auch was; ich ging noch einmal alles durch, vielleicht kam ich so auf was neues drauf ...

„Und auf dem dritten Brief ist wieder eine Zeichnung gewesen. Wieder ich, aber dieses Mal während des Unterrichts. Also muss der Maler mit mir in einem Kurs gewesen sein, woher sollte er sonst wissen, wie ich in dem Moment ausgesehen habe? Und ich weiß, dass ich genauso dagesessen war, weil mich eine Freundin von mir darauf angeredet hat, dass ich nicht so auffällig schlafen sollte." Ich lachte leise, als ich an Shery denken musste. Vielleicht hatte sie ja was gesehen? „Außerdem bin ich in jemanden verliebt. Er heißt Mike und ist sooo sexy." Ich grinste, als er in meinen Gedanken auftauchte. „Was meinst du, was ich tun soll? Glaubst du, dass er es ist? Ich denke nämlich nicht, weil er letztes Mal ein anderes Mädchen geküsst hat ...", erzählte ich. Doch dann erinnerte ich mich wieder, dass Oma ja gar nichts redete. Plötzlich zuckte sie ganz leicht und wendete langsam ihren Kopf mir zu. Sie sah mich an. Ihre Augen schauten zwar irgendwie durch mich hindurch, doch als sie anfing zu sprechen, war ich mir sicher, dass sie mich meinte.

„Geh hin ... Hans hat das gemacht ... Bei mir ... Vor Jahren ... Auf der Akademie ... Es war so schön auf dem Ball." Mir kam es vor, als würde meine Großmutter lächeln. Ich hatte sie dazu gebracht, zu reden! „Wirklich Oma? Hat er das auch gemacht? Das ist ja schön." Oma Lisa nickte leicht. Auf einmal merkte ich, dass sie müde aussah. Am besten wäre es, dass ich sie schlafen ließ. „Danke, Oma. Übermorgen komme ich wieder hier her und erzähle dir vom Ball, ja?" Sie tat nichts, außer meine Hand zu drücken. Recht stark war es nicht gewesen, nur so, dass ich es gerade halt wahrgenommen hatte. Ich schloss hinter mir die Tür und betrat die Küche, in der Mum und Dad beim Tisch saßen und gerade über irgendetwas geredet hatten. Ich informierte sie über die Ergebnisse (o mein Gott, hört sich das seltsam an) und nahm mir dann einen Keks vom Backblech. Einen Kuchen hatte Mama wie versprochen auch gebacken.

„Das ist schon ein Fortschritt. Immerhin hat sie etwas gesagt. Virginia, wann kommst du wieder? Du bist die einzige, mit der Oma Lisa redet, wie es scheint", sagte meine Mutter leise.

„Ja, Mum. Ich komme am Sonntag noch mal. Ich habe schließlich zu Oma gesagt, dass ich ihr vom Ball erzähle." Ich aß noch ein Stück Schokoladenkuchen und packte für jede meiner Freundinnen ebenfalls eine Schnitte ein. Die würden sich sicherlich freuen! Danach verabschiedete ich mich von meinen Eltern, bekam Glückwünsche für morgen und fuhr wieder zur Akademie zurück. Als ich im Bus saß, bekam ich eine SMS von Jacqueline, sie mich fragte, ob ich schon ein Ballkleid hatte. Ach, du Scheiße, nein, hatte ich nicht ...

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