Kapitel 1: Die Begegnung

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Ravel war auf dem Weg zum behelfsmäßig eingerichteten Sanktuarium. Sein Plan war aufgegangen, wenn auch nicht ganz so, wie er es sich ursprünglich erhofft hatte. Eigentlich wollte er Bliss als Meritorius' Nachfolger und er hatte ihn sogar so weit gehabt, dass er die Nominierung akzeptierte. Natürlich wusste Bliss nicht, wer ihm diese Idee in den Kopf gesetzt hatte. Dabei war er so ein intelligenter, berechnender Zeitgenosse...
Nur leider nicht ganz so intelligent, wie Ravel selbst.
Seine goldenen Augen funkelten amüsiert, als er an das letzte Treffen mit Bliss zurückdachte. Er hatte nicht nur seine Ansichten manipuliert, sondern auch das Gedächtnis des vermutlich stärksten Mannes auf der Erde. Dazu hatte es nicht mehr gebraucht, als einen Edelstein und Wissen über seine Funktionsweise. Der kleine Amethyst ruhte in der Innentasche seines Jacketts und wartete darauf, in sein Kästchen im vorübergehenden Repositorium zurückgebracht zu werden. Ein Glück hatte Ravel ihn länger behalten. Ansonsten wäre er möglicherweise zerstört worden, so wie viele andere der Artefakte. Aber er hatte ihn schließlich noch für Davina Marr gebraucht.
Nach dem Tod von Mr. Bliss hatte er seinen Plan ändern müssen. Thurid Guild war der neue Großmagier von Irland geworden und prompt hatte er viele Gegner im eigenen Volk. Die einzige Lösung, die Ravel dazu eingefallen war, beinhaltete die komplette Zerstörung des vorhandenen Systems. Wenn der Staub sich legte, würde das Volk selbst ein neues System erbauen und Irland würde als Wiege der Magie wieder ernstgenommen werden. Nur durfte niemand wissen, dass die letzten Ereignisse einem Plan folgten. Sie sollten zusammenhangslos und zufällig erscheinen. Dazu hatte Ravel Marr mit einbezogen. Sie war jetzt zwar die Gejagte, doch dieses Opfer war ein Nötiges gewesen und er konnte es mit seinem Gewissen vereinbaren. Gemocht hatte er sie sowieso nicht.
Um zu verhindern, dass ihm doch noch jemand vorwerfen konnte, er wäre daran beteiligt, musste er jetzt nur noch den Stein zurückbringen. Man würde ihm den Zutritt zum Repositorium nicht verwehren...

„Du gehörst zu den Personen, die ich hier am aller wenigsten erwartet hätte, mein Freund."
Ravel drehte sich abrupt um, als er die bekannte Stimme hinter sich hörte.
„Skulduggery?"
Der Skelettdetektiv kam in Begleitung seiner Partnerin auf seinen alten Kollegen zu.
„Was hast du so getrieben?", fragte er, „Ich habe dich ja ewig nicht gesehen."
Ravel setzte ein fröhliches Lächeln auf: „Ich war mit Corrival unterwegs und mache im Moment so eine Art Heimaturlaub. Außerdem habe ich mir erzählen lassen, dass du eine neue Partnerin hast. Ist sie das?"
„Ja, mein Name ist Walküre Unruh", stellte sie sich vor, als sie neben Skulduggery stehen blieb.
Sie musste den Kopf etwas heben, um ihren Gegenüber direkt anzuschauen. Sie sah ihm dabei direkt in die Augen. Ravel erwiderte den Blick mit einer entspannten, warmen Miene. Er konnte ihr dabei direkt ansehen, was durch ihre Gedanken ging.
„Wow...", murmelte sie leise, wurde danach augenblicklich rot und wandte schnell den Blick ab.
Skulduggery legte amüsiert den Kopf schief: „Erskin, lach doch nicht... Du bist ja bald so schlimm wie China."
„Ich mache das nicht mit Absicht", verteidigte Ravel sich lachend, „Aber ich nehme es immer als Kompliment."
Dann wandte er sich Walküre zu: „Lass mich mich wenigstens vorstellen. Ich bin Erskin Ravel, ein alter Freund von Skulduggery."
Sie lächelte ein wenig schüchtern: „Freut mich wirklich sehr."
„Dann verrate mir mal, wieso du eigentlich hier bist. Du arbeitest doch nicht etwas auch für das Sanktuarium?", wollte Skulduggery wissen, als die drei zusammen langsam weitergingen.
„Das käme mir nicht in den Sinn, keine Sorge", antwortete Ravel, „Ich habe mir nur erzählen lassen, was hier alles passiert ist, während ich unterwegs war."
„Und, beeindruckt?"
„Ein wenig, ja. Ihr habt ja scheinbar mehrmals die Welt gerettet. Abgesehen davon, dass in erstaunlich kurzer Zeit zweimal der gesamte Ältestenrat ersetzt werden musste und das Sanktuarium zerstört ist..."
„Also, dafür können wir nicht", beteuerte Skulduggery.
„Da bin ich mir ehrlich gesagt nicht so sicher... Wir alle waren damals ziemliche Troublemaker."
Walküre schritt ein: „Die Zerstörung des Sanktuariums war nicht unsere Schuld! Das was geschehen ist haben Skarab, Guild und Davina Marr zu verantworten."
Ravel schaute zu ihr: „Ich mach doch nur Scherze. Man, du hättest uns damals sehen sollen..."
Draußen vor der Tür des unscheinbaren Gebäudes blieb die Gruppe wieder stehen. Hin und wieder lief der eine oder andere Zauberer an ihnen vorbei. Viele Mitarbeiter hatte das irische Sanktuarium nicht mehr – zu viele waren bei dem Anschlag gestorben und die wenigen Verletzten waren auf Krankenstationen untergekommen. Glück hatte nur, wer an dem Tag nicht vor Ort gewesen war. Ravel verzog keine Miene.
„Wo geht ihr nun hin?", fragte der Schwarzhaarige.
„Walküre hat noch eine Trainingseinheit vor sich", sagte Skulduggery und legte seiner Partnerin eine Hand auf die Schulter, „Wie steht's mit dir?"
„Ich habe erst einmal nichts weiter vor."
„Möchten Sie dann nicht mit uns kommen, Mr. Ravel?", schlug Walküre vor.
Etwas Abwechslung beim Training käme ihr sehr gelegen. Skulduggery schien auch nichts dagegen zu haben – sie waren schließlich Freunde.
„Wieso eigentlich nicht", gab Ravel nach, „Wer weiß, vielleicht lerne ich ja noch etwas von euch."
Sie gingen weiter zum Bentley, den Skulduggery vor dem Gebäude am Straßenrand geparkt hatte. Walküre blieb dort einen Moment unschlüssig stehen, sie war nicht sicher, ob sie vorne oder hinten einsteigen sollte. Normalerweise saß sie ja auf dem Beifahrersitz... Aber sollte sie auch jetzt darauf bestehen? Wenn einer von Skulduggerys alten Bekannten dabei war? Sie wollte sich nicht blamieren. Zumindest nicht noch ein zweites Mal.
Ravel sah ihr die Unschlüssigkeit an und da Skulduggery schon hinter dem Steuer saß und wartete, bedeutete er ihr mit einer Geste, sie könne ruhig vorne einsteigen. Dann setzte er selbst sich auf die Rückbank. Die Sitze waren noch bequemer, als sie eh schon aussahen. Um den Wagen konnte man den Skelettdetektiv wirklich beneiden – auch wenn Ravel das nicht zugeben würde. Noch dazu beschleunigte er hervorragend und bekam ordentlich Tempo drauf.
Während der Fahrt fragte Walküre ganz unvermittelt: „Hat das eigentlich auch etwas mit Magie zu tun?"
Sie hatte sich in ihrem Sitz gedreht, um Ravel ansehen zu können.
Dieser sah sie fragend an: „Was meinst du?"
„Ihre Augenfarbe", sagte sie geradeheraus, „Ich habe noch nie jemanden mit... goldenen Augen gesehen."
Wieder lächelte Ravel: „Du bist gewiss nicht die erste, der das auffällt und auch nicht die erste, die fragt. Aber nein, das hat nichts mit Magie zu tun. Das war schon immer so."
Sie sah ihn fasziniert an: „Das ist cool..."
„Angeber", nuschelte Skulduggery von vorne.
„Sagt der, der den teuren Wagen fährt", gab Ravel gut hörbar zurück und Walküre lachte.
Die beiden hatten genau den gleichen Humor. Vielleicht wurde man irgendwann automatisch so, wenn man mehrere hundert Jahre alt wurde und in Kriegen gekämpft hatte...

Das Training hatte Walküre alles abverlangt. Entgegen all ihrer Erwartungen hatte sie sich gegen Skulduggery UND Ravel verteidigen müssen! Es war Skulduggerys Idee gewesen – schließlich könnte sie es ja auch mit mehreren stärkeren Gegnern zu tun bekommen. Das hatte er zumindest als Grund genannt. Vielleicht wollte er sie einfach nur ärgern. Sie hatte aber auch gemerkt, dass Ravel sich zurückgehalten hatte. Er wusste nicht, wie sie kämpfte, wie viel sie aushielt, was sie konnte und was nicht. Walküre merkte das sofort und sie war ihm dankbar, dass er versuchte, sie nicht ernsthaft zu verletzen.
Endlich erlaubten die beiden ihr eine Pause. Sie setzte sich auf eine Bank am Rand der kleinen Sporthalle und griff nach ihrer Wasserflasche.
Skulduggery ging indes auf Ravel zu: „Du siehst noch nicht allzu müde aus. Sollen wir noch eine Runde? Um der alten Zeiten Willen."
„Solange ist es nun auch wieder nicht her. Aber gern, ich habe mich länger nicht richtig ausgetobt."
Walküre hob neugierig den Blick, als die beiden sich in der Mitte der Halle gegenüberstellten. Sie war gespannt, wer der Stärkere von ihnen war.
Den ersten Schritt machte Skulduggery, der erste Schlag ging von Ravel aus. Noch blickte er amüsiert drein, aber bald wurde seine Miene immer ernster.
Mal gingen sie umeinander herum, mal standen sie dicht voreinander, teilten Stöße, Schläge und Tritte aus. Dann gingen sie wieder auseinander und beobachteten angespannt die nächsten Bewegungen des anderen. Bald hatte Skulduggery im Gefecht seinen Hut verloren und Ravel hingen ein paar seiner schwarzen Haare im Gesicht. Wirklich erschöpft sah noch keiner aus, also gingen sie wieder aufeinander los.
Kurz darauf hatte Skulduggery seinen Gegner an die Wand gedrängt. Ein Schlag traf Ravel am Kinn, der nächste hätte seine Nase erwischt, wenn er nicht den Kopf zur Seite gezogen hätte. Als er das nächste Mal die behandschuhte Faust auf sich zukommen sah ließ er sich fallen und stieß aus einem Reflex heraus die Luft von sich weg. Er hatte gar nicht darüber nachgedacht, doch Skulduggery flog nun im hohen Bogen durch die Halle und krachte in die gegenüberliegende Wand. Stöhnend stand er auf.
„Das bekommst du zurück..."
Sofort stand Ravel wieder auf den Füßen und wich dem Luftstoß aus, den Skulduggery von sich stieß.
Der Kampf wurde intensiver und Walküre konnte die heftigen Veränderungen in der Luft deutlich spüren. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie einschreiten sollte. Doch noch bevor sie sich entscheiden konnte flog der erste Feuerball. Danach ging alles zu schnell für sie.
Ravel stieß sich ab und versetzte Skulduggery einen Schlag gegen den Kiefer, woraufhin dieser eine Wand aus Luft in ihn hineinkrachen ließ. Eine zweite folgte, noch ehe Ravel auf dem Boden aufgekommen war und donnerte mit ihm gegen die Wand.
Skulduggery blieb augenblicklich stehen und regte sich nicht, bis Ravel sich keuchend wieder aufrichtete. Dann entspannte er sich.
„Du hast dazu gelernt", lobte er.
„Und du... bist nachlässig geworden", feixte Ravel und ließ sich aufhelfen.
Walküre starrte die beiden an: „Wie könnt ihr euch so verdreschen und dann noch Freunde sein?"
Die beiden lachten.
„Oh, das war nicht das erste Mal", erklärte Ravel, „Irgendwann kommt bei einem der Instinkt durch. So haben wir es mit den anderen damals ständig gemacht."
„Wichtig ist nur, dass einer aufhört", meinte Skulduggery schulterzuckend.
„Die anderen?", fragte Walküre.
Ravel blickte vielsagend zu Skulduggery.

"Was wäre wenn..." Teil 2: Unbekannte AbenteuerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt