Kapitel 1

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Das enge schwarze Top klebte an meinem Körper und bei jedem Bassschlag tat mir der Kopf weg. Der Sauerstoffgehalt der Luft betrug geschätzte 2%. Ich saß auf einem Barhocker in der hintersten Ecke des Raumes mit ein paar leeren Bierflaschen neben mir und einem Schluck eines unidentifizierbaren Gemischs, das wohl irgendjemand mitgebracht hatte, in der Hand und beobachtete die Leute auf der Tanzfläche. Normalerweise wäre ich jetzt auch dort, aber heute war mir nicht danach. Die Stimmung unter den restlichen Gästen war ausgelassen, keiner kümmerte sich darum wie peinlich er beim Tanzen aussah oder wie schlecht die Anmachsprüche, mit denen er sich an die nächstbeste Person heranmachte. Dieser Effekt war dem Alkohol zuzuschreiben, von dem es hier mehr als genug gab. Ich leerte das Glas, stand auf und bahnte mir einen Weg durch die Menschenmenge. Schnellen Schrittes lief ich die Treppe am anderen Ende des Raumes hoch. Oben angekommen ging ich ins Bad, zog die Tür zu und ließ mich langsam an der Wand hinuntergleiten. Hier war die Musik nur noch gedämpft zu hören, aber noch gut genug um zu erkennen, dass sie definitiv nicht meinem Geschmack entsprach. Normalerweise war mir das relativ egal, ich hatte trotzdem meinen Spaß. Nur heute nicht. Da konnte auch der Alkohol nichts dran ändern.
Gerade zog ich mein Handy aus der Hosentasche, als sich die Tür öffnete und ein blondes Mädchen hereingestürmt kam. Sie hatte schwarze Streifen von ihrer verlaufenen Mascara im Gesicht und ihre blauen Augen waren rot und verquollen. „Alles in Ordnung?", fragte ich sie vorsichtig. „Ja", brachte sie unter heftigem Schluchzen hervor, aber es klang, als wollte sie genau das Gegenteil sagen. „Gut, dann geh ich wohl besser", meinte ich unsicher. Ich fühlte mich zwar etwas schlecht, ihr keine weitere Hilfe anzubieten, aber ich hatte ganz einfach keine Lust dazu. Im Trösten war ich außerdem noch nie sonderlich gut gewesen. Draußen im Flur kam mir ein junger Mann entgegen, der so zielstrebig ins Bad rannte, dass er ziemlich unsanft mit mir zusammenstieß. Ohne sich zu entschuldigen lief er einfach weiter. Während ich langsam die Treppe runterlief, hörte eine gedämpfte weibliche Stimme von nebenan schreien: „Geh weg, ich will keine Erklärung von dir!". Das war wahrscheinlich das Mädchen gewesen und der Typ der mich vorhin umgerannt hatte war sicher ihr Freund oder so. Ich malte mir aus, was wohl passiert war, während ich mich vorsichtig Richtung Ausgang bewegte. Als ich gerade die Tür öffnen wollte, um die Party unbemerkt zu verlassen, wurde ich aufgehalten. „Hey, willst du schon gehen? Es ist nicht mal halb eins!". Es war Sam, der mich aufgehalten hatte. Sam ging in die elfte und hatte das Ganze hier organisiert. Es war im übrigen auch sein Haus, in dem er sonst alleine mit seinem Vater wohnte. Der würde allerdings die nächsten Tage nicht da sein, da er Sams kranke Großmutter pflegen musste.
„Ich bin heute nicht so in Feierlaune", antwortete ich. Sam blieb hartnäckig: „Komm schon, bleib doch noch ein bisschen. Du musst ja auch nicht tanzen, die Jungs haben grad ein Trinkspiel gestartet". „Ne, sorry. Ich gehe jetzt", sagte ich bestimmt und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Die kühle Luft hier draußen tat gut, die Musik war kaum noch zu hören. Die Frage war bloß, was jetzt? Nach Hause konnte ich auf keinen Fall, wenn meine Mutter mitbekam, wo ich gewesen war, würde sie endgültig einen Nervenzusammenbruch erleiden. Wenn sie das nicht sowieso schon tat. Am liebsten würde ich einfach in mein Auto steigen und wegfahren. Das Problem dabei war allerdings, dass ich weder Auto, noch Führerschein besaß. Wie denn auch, ich war schließlich gerade mal 15. Während ich mir Gedanken darüber machte, wie der weitere Verlauf dieser Nacht aussehen sollte, ging hinter mir die Tür auf und jemand kam mit schlurfenden langsamen Schritten den Kiesweg entlang. Aus dem Augenwinkel konnte ich kurz das Licht aufblitzen sehen, das von dem Feuerzeug kam, mit der die Person sich gerade eine Zigarette anzündete. Da hier niemand sonst war und ich mich ein wenig einsam fühlte, beschloss ich, einfach mal hinzugehen. Im Näherkommen erkannte ich Paul. Paul ging wie Sam in die elfte, hatte diese allerdings wiederholt. Keiner wusste viel über ihn, er war eher verschlossen und die meisten seiner Freunde gingen nicht auf unsere Schule. Er galt als ziemlicher Bad Boy, angeblich dealte er. Jetzt könnte man meinen, er wäre dieser coole, mysteriöse Typ, auf den alle Mädchen es abgesehen haben. Aber merkwürdigerweise war er das nicht. Es war nicht bekannt, ob er je eine Freundin gehabt hatte. Hier und da gab es Gerüchte, dass er noch Jungfrau war. Oder schwul. Eigentlich beides. Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung woran das lag, er sah nicht mal sonderlich schlecht aus. Vielleicht, weil er sich selten an sozialen Ereignissen beteiligte und auch sonst ein ziemlicher Außenseiter war. Es wunderte mich, ihn überhaupt hier anzutreffen. „Na, willst du auch eine Kippe?", fragte er mich leicht scherzhaft, als er bemerkte, dass ich auf ihn zukam. „Nein, nein", wehrte ich ab, „ Ich suche nur etwas Gesellschaft". „Bei mir?", lachte er. „Siehst du hier sonst jemanden", fragte ich, eigentlich eher rhetorisch. „Also, wenn du Leute suchst; da drinnen sind mehr als genug", meine er, blies den Rauch aus und deutete mit einer Kopfbewegung auf das Haus von Sam, aus dessen Fenstern flackernde Lichter strahlten und Pauls rechte Gesichtshälfte sowie den Rauch seiner Zigarette immer wieder in andere Farben tauchte. „Ne, hab grad nicht so viel Bock auf Party", wies ich den Vorschlag ab. „Na gut, also ich fahr jetzt", meinte er, ließ die Zigarette, obwohl sie noch nicht fertig war, auf den Boden fallen und trat sie aus. Als er meinen enttäuschten Blick sah, fügte er hinzu: „Meinetwegen kannst du mitkommen. Aber im Auto wird meine Musik gehört, okay? Keine Widerrede!". „Geht klar", meinte ich lachend und hoffte, dass er kein EDM hörte, während wir langsam zu seinem Auto liefen. Es war ein alter klappriger Mercedes in Silber, dessen Schlüssel Paul aus seiner Hosentasche holte. Er öffnete die Tür und setzte sich schwungvoll auf den Fahrersitz. Etwas zögerlich öffnete ich die Tür und nahm als Beifahrerin Platz. Als er die Schlüssel reinsteckte und den Motor zündete, ging auch das Radio an.
„Das ist Jim Morrisson", meinte Paul. „Ich weiß", antwortete ich gelassen. „Echt? Du kennst den?", gab Paul erstaunt zurück. „Ja, das ist Riders on the Storm von the Doors", nannte ich ihm Songtitel und Band. „Ja man, das ist so geil beim Autofahren",meinte er begeistert. Eine Weile fuhren schweigend weiter. Nur die Stimme von Jim und die für die Doors typische psychedelische Rockmusik füllten das Auto. „Sorry, dass ich erst jetzt frage, aber wie heißt du eigentlich?", unterbrach Paul die Stille. „Hope, auch wenn das nicht unbedingt passend ist", antwortete ich. „Und in welche Klasse gehst du?", fragte er weiter, ohne auf meine Bemerkung einzugehen. „Neunte", lautete meine Antwort, deren Unterton zu verstehen gab, dass ich das nicht sonderlich toll fand. „Bisschen jung um dich hier rumzutreiben", lachte er und stieß dabei ein kleines Schnauben aus, was ihn leicht überheblich klingen ließ. „Naja, ich hatte schon immer eher Freunde in höheren Klassen. Die Leute in meiner sind immer so unreif", erklärte ich. „Also, ich hoffe das kommt jetzt nicht eingebildet rüber", fügte ich schnell hinzu. „Ne, das verstehe ich schon", erwiderte Paul.
Dann kamen die ersten Takte von "Stairway to Heaven" von Led Zeppelin durch die Lautsprecher und Paul begann, mit den Fingern auf dem Lenkrad den Rhythmus zu klopfen. „Was für Musik hörst du eigentlich?", fragte er, scheinbar um Konversation bemüht. „Guns 'n' Roses, Aerosmith, Rolling Stones, sowas halt", antwortete ich. "Hm, cool. Hätte ich gar nicht erwartet von so einem Mädchen wie dir", meinte er. Jetzt setzte das Schlagzeug ein und das Lied wurde schneller und lauter. Paul begann leicht mit seinem Kopf im Takt zu wippen und drückte auf das Gaspedal. War das jetzt eine Beleidigung oder ein Kompliment gewesen? Irgendwie beides. Als die Instrumente leiser wurden und Robert Plant langsam den letzten Vers sang, sah ich, wie Paul still mit den Lippen die Worte „And she's buying a stairway to heaven" formte.

When the night is overWo Geschichten leben. Entdecke jetzt