Kapitel 4

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Nachdem wir noch einige Stunden dort geblieben waren, war ich mit Paul nach Hause gefahren. Vorher hatte ich zu Hause angerufen und Bescheid gesagt, dass ich wahrscheinlich bei einer Freundin schlafen würde. Natürlich war meine Mutter nicht sonderlich begeistert davon. Aber ich hatte kurz gesagt einfach keine Lust nach Hause zu gehen.
„Soll ich uns wieder Pizza machen?", fragte Paul, nachdem wir seine Wohnung betreten hatten. Er hatte seit gestern offensichtlich nicht aufgeräumt. „Ne lass mal, ich habe keinen Hunger", lehnte ich ab. Stattdessen setzten wir uns mit einer Tüte Chips (obwohl ich ja eigentlich keinen Hunger hatte) auf das Sofa und sahen uns einen Film mit James Dean an. Zunächst redeten wir nicht, aber irgendwann bemerkte Paul: „Wusstest du das James Dean angeblich bisexuell war?". Dabei starrte er weiter auf das flimmernde Bild des mindestens zehn Jahre alten Fernsehers. „Ja, das habe ich auch schon gehört", antwortete ich ihm. Paul öffnete den Mund, als wollte er noch etwas sagen. "Hm?", murmelte ich mit fragendem Blick.
„Ach egal, vergiss es". Dann schwiegen wir weiter vor uns hin. Nur das rascheln der Chipstüte machte es hin und wieder ein wenig mühevoller, die Dialoge zu verstehen.
Als der Film zu Ende war, stand Paul auf, klopfte sich die Chipskrümel von der Hose und ging ins Bad. Zwei Minuten später kam er wieder raus und fragte: „Also wie sieht's jetzt bei dir mit schlafen aus? Bleibst du hier?". Ich überlegte kurz und obwohl ich noch immer ein etwas schlechtes Gewissen hatte, stimmte ich zu, bei ihm zu übernachten. „Ich habe leider keine Matratze, also würde es dir etwas ausmachen...", begann er. „Nein, wenn es dich nicht stört mit mir in einem Bett zu schlafen", unterbrach ich ihn. Er begann zu lachen und meinte: „ Achso, ich wollte dich jetzt eigentlich fragen ob du auf dem Sofa schlafen kannst. Aber gut, dann eben so".
Nachdem Paul aus seinem Kleiderschrank einen Schlafanzug seines ehemaligen Mitbewohners hervorgekramt hatte, lagen wir zu zweit in seinem Bett. Es war etwas merkwürdig, da wir beide stets darauf bedacht waren, den Abstand von etwa 30 Zentimetern, der zwischen uns lag, nicht zu verringern. Zunächst lagen wir  still beide da und versuchten einzuschlafen, ohne den anderen dabei zu stören, das gleiche Vorhaben umzusetzen. „Ich kann nicht schlafen", gab ich irgendwann ehrlich zu. Ohne etwas zu sagen stand Paul auf und gab mir zu verstehen, dass ich ihm folgen sollte. Er nahm im Vorbeigehen seinen Schlüssel vom Tisch. Dann öffnete er die Wohnungstür und schaltete das Licht im Treppenhaus an.
Sobald ich aus dem Haus, in die Dunkelheit, unterbrochen vom Licht der Straßenlaternen getreten war, richtete ich meinen Blick zu den Sternen und atmete tief ein. Die Luft war kühl und klar und es lag bereits der Hauch einer Sommernacht darin. Es war etwas bewölkt, aber je weiter wir uns von den Dorfstraßen und dem Licht ihrer Laternen entfernten, desto schöner konnte man die Sterne zwischen den Wolken aufblitzen sehen. Wie tausende winziger Diamanten auf schwarzem Samt. Während wir im Gleichschritt die Landstraße hinunterliefen, wanderten meine Gedanken zu dem alten Bus. „Paul?", fragte ich. „wie hieß eigentlich der Junge mit der Gitarre? Du weißt schon, der, der Hotel California gespielt hat". „Ah, du meinst sicher Alex", meinte Paul möglichst neutral, konnte sich dabei aber das kleine Grinsen nicht vergessen. „Was ist denn mit dem?", fügte er hinzu. „Ich... also, naja... dir kann ich es ja sagen", begann ich etwas stammelnd, „ich würde ihn gerne näher kennenlernen". „Pfff, näher kennenlernen", lachte er „du willst mit ihm ins Bett!"
„Das habe ich nicht gesagt", wehrte ich ab. Paul lachte kurz, wurde allerdings recht schnell wieder ernst. Er erzählte mir, dass Alex zurzeit single war, allerdings in der Vergangenheit schon ein paar Beziehungen gehabt hätte und ein guter Freund von ihm war. Er ging, wie die meisten von Pauls Freunden auf eine Schule, die etwas außerhalb der Stadt lag. „Ich kann euch nächstes Mal ja miteinander bekannt machen", schlug er vor. „Wenn du das unbedingt willst", meinte ich betont gleichgültig.
Kurze Zeit später waren wir wieder bei Pauls Wohnung angekommen. Das grelle bläuliche Licht des Handydisplays blendete mich, als ich einen flüchtigen Blick auf die Uhr warf: 00:26. „Mist!", rief ich plötzlich aus, als mir auf einmal einfiel, dass morgen Montag war. „Was ist denn?", fragte Paul, während er die Wohnungstür aufschloss. „Ich hab morgen Schule", erklärte ich. „Macht nichts, ich kann dich hinfahren. Ich muss ja eigentlich auch hin, obwohl ich vorhatte zu schwänzen".
Als ich am Montagmorgen die Augen öffnen, drangen helle, weiße Lichtstrahlen durch die Jalousien in das Zimmer. Ich wollte in Ruhe aufstehen, Kaffee machen und dann Paul wecken, aber der Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon viertel nach Acht war. Die Schule hatte bereits begonnen! Ich stand auf und ging ins Bad. Als ich zurück kam, hatte auch Paul seine Augen geöffnet. „Wolltest du nicht irgendwie in die Schule?", fragte er verschlafen. „Eigentlich schon, aber jetzt ist es ja eh zu spät", winkte ich ab. „Nichts da, ich fahr dich!", widersprach er mir. Ich war ehrlich erstaunt über sein plötzliches Verantwortungsbewusstsein. Zwar hatte ich absolut keine Lust, in die Schule zu gehen, aber Paul ließ nicht mit sich reden.
Um Punkt neun hielt sein silberner Mercedes vor dem Schultor. Er verabschiedete sich von mir, meinte allerdings er suche noch einen Parkplatz, was darauf schließen ließ, dass er vorhatte zu bleiben. Ich hatte keinerlei Schulsachen dabei, aber die Lehrer sollten froh sein, dass ich überzeugt noch zum Unterricht erschien. Mit verklebter Wimperntusche (sicher noch von Vorgestern), den gleichen Klamotten seit zwei Tagen und ungekämmten Haaren schlich ich mich, mehr als eine Stunde zu spät in den Unterricht.
„Und? Was ist deine Ausrede?", fragte die Mathelehrerin in scharfem Tonfall. Statt lange nach einer billigen Notlüge zu suchen, beschloss ich es mit der Wahrheit zu versuchen: „Tut mir leid, ich habe verschlafen".
„Na, da habe ich schon besseres gehört. Setz dich!", meinte sie und trug mein Zuspätkommen ins Klassenbuch ein. Ich ließ mich auf meinen Platz neben Mandy in der letzten Reihe fallen.
„Wo warst du denn das ganze Wochenende? Du bist bei der Party einfach verschwunden!", warf Mandy mir vor. „Tut mir leid, ich...", sollte ich ihr sagen, dass ich bei Paul gewesen war? Nein, das käme sicher falsch rüber. „Ich war bei Freunden", erklärte ich ihr stattdessen. „Sei ruhig ehrlich, es weiß eh schon jeder, dass du bei Paul warst", fuhr sie mich auf einmal ziemlich unfreundlich an.  „Was ist denn los?", fragte ich sie. „Was los ist?", gab sie empört zurück, „Du bist auf der Party scheiße drauf und haust kurz nach Mitternacht schon ab, hast dann einen One-Night-Stand mit Paul-"
„Nein, so war das gar nicht!", unterbrach ich sie, aber Mandy redete einfach weiter. „Meldest dich das ganze Wochenende nicht, erzählst mir auch kein Wort von der ganzen Sache und dann denkst du nicht einmal daran, dass wir gestern zusammen ins Kino wollten!", rief sie. Leider etwas zu laut. „Die Damen in der letzten Reihe, wenn ihr nicht sofort mit diesem schrecklichen Gezeter aufhört setzte ich euch auseinander und jede von euch bekommt eine sechs!", wies uns unsere Mathelehrerin zurecht. Also schwiegen wir und zumindest sah es so aus, als konzentrierten wir uns auf die Aufgaben.
„Tut mir ehrlich leid", entschuldigte ich mich in der Pause bei Mandy, „es ist zuhause gerade echt nicht einfach"
„Was ist passiert?", fragte Mandy, plötzlich ernsthaft besorgt. „Er ist abgehauen", antwortete ich betreten, obwohl ich eigentlich eher wütend war. Ich hatte zwar nur einen Teil der Wahrheit gesagt, aber allein das reichte, um die Emotionen in mir wieder so weit aufkochen zu lassen, dass mir Tränen in die Augen stiegen. „Ist wirklich alles in Ordnung?", hakte Mandy liebevoll nach. „Ja, geht schon", versicherte ich ihr.

When the night is overWo Geschichten leben. Entdecke jetzt