Kapitel 2

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Paul lebte alleine in einer Wohnung, die in einem Dorf etwas außerhalb lag. Es war eine Zweizimmerwohnung und sie war nicht sehr ordentlich aber irgendwie gemütlich. Wenn man hereinkam, befand man sich in einem kleinen Flur, in dem ein kleines Schuhregal stand und ein Poster mit einem Bild vom New York der Siebzigerjahre an der Wand hing. Von hier aus ging es in sein Schlafzimmer und in das Wohnzimmer mit integrierter Küche. Es gab eine Sofaecke mit einem niedrigen Tisch in der Mitte und an der Wand stand ein Fernseher auf einer Kommode über den ein paar Klamotten geworfen waren. Ein Bücherregal stand an der anderen Wand und es gab auch einer Lautsprecheranlage. Auf dem kleinen Tisch in der Mitte lag eine leere Bierdose, ein Aschenbecher, noch ein paar Klamotten und tausende Zettel. „Setz dich", sagte Paul, „Ist nicht gerade eine Musterwohnung, ich weiß". „Ach, das geht schon", meinte ich und nahm auf dem beigen Sofa Platz. Der Raum war spärlich von einer nackten Glühbirne erleuchtet, die alles in ein warmes gelbliches Licht tauchte. „Ich mache uns eine Pizza, wenn du willst", bot Paul an und öffnete das Tiefkühlfach. „Ja, gerne", antwortete ich. Er holte eine Tiefkühlpizza raus und schob sie, ohne sie vorher auftauen zu lassen in die Mikrowelle. Währenddessen sah ich mir die Zettel, die auf dem Tisch vor mir lagen genauer an. Es waren Gedichte. Oder Liedtexte. „Was ist das?", fragte ich ihn. „Was ist was?", antwortete er und kam zu mir. „Ach das, das ist nichts", meinte er betont gleichgültig und räumte die Zettel weg.
Die Mikrowelle gab mit einem Ton zu verstehen, dass die Pizza jetzt fertig war. Paul holte noch zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank. „Du trinkst doch, oder?", fragte er sicherheitshalber. „Ja ja, nur her damit", sagte ich und grinste. Wir machten es uns auf dem Sofa bequem und führten ein bisschen Smalltalk. Schließlich nahm Paul die Gitarre, die auf dem Boden neben dem Sofa gelegen hatte und begann ein paar Akkorde zu spielen.
„Ist das von Scott McKenzie?"
„Nein, das war grad nur improvisiert", meinte Paul und lachte auf, „aber ich kann „Twelve Thirty" spielen wenn du willst". Ich nickte, also begann er zu spielen. Er sang sogar. Seine Stimme war nicht perfekt, aber irgendwie schön. Ich hätte ihm stundenlang zuhören können. Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder öffnete, drang zwischen den halb geschlossen Rollos Licht hindurch. Ich holte mein Handy hervor. 9:57, 3 neue Nachrichten. Ich öffnete die Musik App und machte Wild Horses von den Rolling Stones an. Dann las ich die Nachrichten. Sam hatte wohl gesehen, dass ich mit Paul weggefahren war, denn er hatte gefragt, ob zwischen uns was lief. Das konnte ich zum Glück guten Gewissens verneinen. Mandy, meine beste Freundin, fragte, warum ich gestern Abend nicht mehr da gewesen war. Meine Mutter wollte wissen, wann ich wieder zu Hause war. Ich hatte sie in dem Glauben gelassen, dass ich bei Mandy übernachtete. Nachdem ich die Nachrichten mehr schlecht als recht beantwortet hatte, ging ich in die Küche und machte mir einen Kaffee. Ich stellte die Tasse auf dem Fernsehtisch ab und öffnete das Rollo. Das Wohnzimmer war erfüllt von hellem Sonnenlicht und wenn man hinaus sah, konnte man die kleine Landstraße, Felder und den Waldrand sehen. Der Himmel war blau und mit 22 Grad versprach es, ein schöner Tag zu werden. Als ich mich zurück auf die Couch setzte, öffnete Paul gerade langsam seine Augen. „Na, schon wach?", fragte er verschlafen. „Willst du auch Kaffee?", fragte ich ihn, anstatt auf seine Frage einzugehen. „Au ja, gute Idee", meinte er und gähnte. Ich stand also wieder auf und machte noch einen Kaffee. „Mit Milch?", rief ich. „Ne, ohne. Und ohne Zucker", antwortete Paul.
"Soll ich dich dann eigentlich nach Hause fahren?", fragte Paul, während wir bei unserem notdürftigen Frühstück saßen. Als er das erwähnte, wurde mir auf einmal total schlecht. Am liebsten hätte ich den Kaffee wieder ausgespuckt. Mit einem Mal kamen all die Gedanken an das, was gestern geschehen war zurück. Ich will nicht zurück! Hätte ich am liebsten geschrien. Stattdessen schluckte ich langsam meinen Kaffee herunter. "Okay", murmelte ich nur abwesend.
Auf der Rückfahrt lief "Serve the Servants" von Nirvana, was meine Stimmung wieder hob. Wir sangen beide laut mit und ich vergaß das, was mich erwarten würde, wenn ich zurück kam.
Das hielt leider nur, bis Paul an der Ecke meiner Straße hielt, mir einen schönen Tag wünschte und dann wegfuhr. Der Himmel war nicht mehr so blau wie vorher, eher grau, und ein unangenehmes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Ich wollte nicht nach Hause. Aber ich wusste, je länger ich es hinauszögerte, desto schlimmer würde es werden. Also lief ich mit gesenktem Kopf die Straße entlang, bis zur Nummer 17. Ich kramte den Schlüssel aus meiner Hosentasche, steckte ihn ins Schloss, drehte ihn herum und drückte die Tür auf. Langsam stieg ich die Treppen hoch. Mit jeder Stufe fühlte es sich mehr so an, als wäre mein Herz so schwer, dass es auf meinen Magen drückte. Oben angekommen riss ich mich zusammen und versuchte möglichst neutral bis glücklich auszusehen. Ich schloss die Tür auf. „Hallo? Bin wieder da!", rief ich in die Wohnung hinein. Die Schlafzimmertür öffnete sich und meine Mutter kam heraus. Bei ihrem Anblick musste ich schwer schlucken. Sie trug die selbe alte Jogginghose wie gestern, ihre Augen waren rot und sahen aus als hätte sie die ganze Nacht geweint anstatt zu schlafen. Ihre Haare waren unordentlich und leicht zerzaust zu einem Dutt zusammengebunden. Sie nahm mich in den Arm, sagte aber kein Wort. Dann gab sie mir einen Kuss auf die Wange. „In der Küche liegt Geld", meinte sie dann. „Nimm dir einfach was du brauchst". Dann verschwand sie wieder in ihrem Zimmer. Lilly, meine kleine Schwester, lief an mir vorbei, ins Wohnzimmer und dann wieder zurück in ihr Zimmer. Sie sah mir kaum in die Augen. Einerseits hätte ich sie gerne umarmt, aber sie wollte nicht bemitleidet werden. Außerdem hatte sie sicher Berührungsängste. Sie schämte sich für das was passiert war, auch wenn sie nichts dafür konnte. Ich war zwar nicht hier gewesen, aber mit großer Sicherheit waren beide die ganze Zeit in ihren Zimmern gewesen, hatten alleine vor sich hingeweint und es nicht geschafft miteinander zu reden. Die Stimmung war bedrückend, wie ich es befürchtet hatte. Ich ging schließlich zu  Lilly's Zimmer und klopfte an die angelehnte Tür. Sie antwortete nicht, also trat ich nur einen kleinen Schritt ein. „Wie geht es dir?", fragte ich. Bereute es im nächsten Moment aber wieder. „Stell nicht so blöde Fragen", antwortete sie, mit einem leeren, glasigen Blick. Sie schaute kurz auf den Boden, dann sah sie mir direkt ins Gesicht und schrie mich wütend an: „Wenn du nicht einfach gegangen wärst, wüsstest du es! Du hast uns einfach alleine gelassen, als wäre nichts passiert! Mama hat sich stundenlang im Bad eingeschlossen und geweint und ich konnte nichts tun! Sie will nicht mit mir reden, weil sie mich nicht noch mehr belasten will und ich...", sie brach ab. Ich wusste, dass sie es nicht aussprechen wollte. In ihren hübschen braunen Augen lag, anders als in ihrer Stimme, keine Wut, sondern Verletzung. Sie hatte ja Recht. Ich hatte sie , nach allem was an dem Tag passiert war , einfach alleine gelassen. Mit einer Mutter, die einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen erlitt und die ganze Zeit weinte. Und dabei ging es Lilly selbst überhaupt nicht gut. Ich hatte keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht hatte. Ich hatte einfach alles vergessen wollen und da erschien mir die Party als perfekte Lösung. Dabei hatte ich nur an mich gedacht. Wie egoistisch ich doch immer war. Meine kleine Schwester war zu Recht sauer auf mich. Aber was sollte ich jetzt tun? Eigentlich wollte ich keine Sekunde hier bleiben, ich wollte diese bedrückende Stimmung nicht länger aushalten müssen. Aber wenn ich jetzt gehen würde, würde ich sie wieder im Stich lassen. Ich bemerkte, dass Lilly angefangen hatte zu weinen. Zunächst hatte ich Angst, sie würde mich nicht an sie heranlassen, aber dann umarmte ich sie doch und sie begann immer heftiger zu schluchzen. Jetzt hatte ich auch Tränen in den Augen. Ich musste einfach alles herauslassen, was sich in den letzten nicht mal 24 Stunden in mir aufgestaut hatte.
„Tut mir leid", schniefte Lilly schließlich, „ich meinte das nicht so, ich habe dich lieb". „Das muss dir nicht leidtun", meinte ich, „ ich habe dich auch lieb".

When the night is overWo Geschichten leben. Entdecke jetzt