Beinahe hätte ich ein überraschtes „Oh!", ausgestoßen, als mir ausgerechnet Alex die Tür zu Pauls Wohnung öffnete. „Hey, komm rein", sagte er lässig. Ich lächelte nur kurz und hoffte, dass ich nicht rot geworden war.
Im Wohnzimmer erkannte ich das Mädchen wieder, die bei der Bandprobe gefilmt hatte. Es war noch ein anderes Mädchen da, wie sich später herausstellte war sie die Freundin von der mit der Kamera, deren Namen ich wieder vergessen hatte. Außerdem saßen da noch zwei Jungs, die ich allerdings noch nie gesehen hatte. Der eine hieß Lucas, ich unterhielt mich eine Weile mit ihm über alles mögliche. Anscheinend mochte er Technomusik, Motorradrennen und besitzt drei Hunde. Während unseres eher einseitigen Gesprächs wanderte mein Blick immer wieder zu Alex. Mir viel auf einmal auf, wie hässlich ich hier rumsaß, also schlug ich meine Beine übereinander und fuhr mir schnell mit den Fingern durch die Haare. Es versetzte mir einen kleinen Stich, als ich sah, wie er zwischen den beiden Mädchen saß und sich ziemlich zu amüsieren schien. Dann kam Paul aus der Küche, mit einem Topf in der Hand. Er hatte es geschafft, Pasta für uns zu kochen und zwar nicht mal so schlecht. Nach dem Essen gab es so eine Art kleine Jam Session. Das Mädchen mit den dunklen Locken filmte wieder, mit einer altmodischen Videokamera. Ich fang mich sogar dazu durch, mit Alex zu reden. Er war wirklich nett, aber es war nur Smalltalk und ich überdachte jedes Wort dass ich sagte ganz genau. Gegen null Uhr beschloss ich zu gehen. Obwohl es echt schön gewesen war wurde ich langsam müde und ich wollte mein Glück auch nicht überstrapazieren. Es heißt nicht umsonst, dass man aufhören soll, wenn es am schönsten ist. Na super! Der nächste Bus kommt in zwei Stunden! Das hieß wohl, dass ich bei Paul schlafen musste. Vielleicht übernachtete Alex ja auch bei ihm. Auf dem Weg zu Pauls Wohnung malte ich mir alle möglichen Szenarien aus, aber als ich ankam wurde ich mal wieder von der Realität enttäuscht. Die anderen waren mittlerweile auch gegangen.
„Was vergessen?", fragte Paul verwundert. „Ne, der nächste Bus kommt erst in zwei Stunden. Ich dachte ich kann vielleicht bei dir pennen", erklärte ich. „Jo, geht klar", meine Paul und ging ins Schlafzimmer um eine zweite Decke und ein zweites Kopfkissen zu holen. Wir sahen noch eine Folge Twin Peaks, wobei ich ehrlich sagen muss, dass ich die erste Staffel besser fand, dann machte Paul das Licht aus. Ich fühlte mich irgendwie aufgewühlt, unruhig. Ich konnte nicht schlafen. Da sagte Paul auf einmal: „Also, ich weiß nicht ob du es hören willst, aber ich hab mal mit Alex geredet".
Oh nein! Ein ungutes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Eigentlich wollte ich keine schlechten Neuigkeiten. „Okay, erzähl", forderte ich ihn völlig ruhig auf. „Naja, er meint er findet dich ganz hübsch", begann Paul. Das freute mich zwar ungemein, nur hatte ich Angst vor dem aber, „Aber", fuhr er fort, und meine Lunge zog sich zusammen, „er findet dich ein bisschen... arrogant"
Ich schnappte nach Luft.
„Keine Ahnung, ich hab ihm gesagt, dass das nicht stimmt, aber er meint halt wie du immer so bitchig stehst und sitzt und mit deinen Haaren spielst. Außerdem beteiligst du dich nie an Unterhaltungen und wenn, dann nur oberflächlich".
Autsch, das tat weh.
„Ich glaube du musst nur lockerer werden", meinte Paul. „Kann sein", murmelte ich etwas abwesend, immer noch verletzt von Alex Worten, „Ich habe halt Angst mich zu blamieren, kann schon sein, dass es so rüber kommt"
„Mach dir nichts draus", tröstete er mich, „das wird schon noch, wenn ihr euch besser kennenlernt".
Ich antwortete nicht und es entstand eine unangenehme Stille. Also drehte ich mich zur Seite und versuchte zu schlafen, aber in meinem Kopf drehte sich alles. „Ich kann nicht schlafen", flüsterte ich und hoffte, dass Paul noch wach war. Erst gab er keine Antwort, dann sagte er: „Weißt du, es gibt da etwas was ich dir schon länger erzählen wollte, aber ich hatte immer Angst vor deiner Reaktion".
Ich hielt die Luft an. Wollte er mir jetzt etwa seine Liebe gestehen? Oh Gott, was soll ich sagen? Irgendwie war es merkwürdig, wir verstanden uns super und er sah nicht mal schlecht aus, aber aus irgendeinem Grund hatte ich einfach keine Gefühle für ihn. Allerdings wünschte ich mir gerade, ich hätte welche, dann wäre diese Situation um einiges angenehmer.
Paul holte tief Luft und sagte dann: „Ich bin asexuell."
Damit hatte ich nicht gerechnet. Aber irgendwie machte es Sinn, ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er je einen Freund oder eine Freundin gehabt hatte. „Okay, cool", antwortete ich und hoffte, dass das die gewünschte Reaktion war. Dann wurde ich allerdings neugierig und begann fragen zu stellen. „
„Heißt das, du verliebst dich nicht?"
„Nein", Paul schüttelte den Kopf und grinste, „Ich hab nur kein Bock auf Sex. Um ehrlich zu sein bin ich sogar verliebt".
Jetzt hatte ich wieder Angst, aber er begann zu erzählen und auf einmal nahm alles eine ganz andere Wendung.
„Sie heißt Shelby und ist das hübscheste Mädchen der Welt, du müsstest sie mal lachen hören", begann er zu schwärmen. Auf einmal machte er eine abrupte Pause. "Es gibt halt ein Problem."
"Wieso? Liebt sie dich nicht? Oder findet sie es blöd, dass du keinen Sex willst?"
„Nein, sie liebt mich", sagte Paul und ich wusste, dass er lächelte, „aber wir können uns nicht sehen. Sie...", er schwieg, „sie sitzt im Knast".
„Oh", seufzte ich betroffen.
„Wegen mir", fügte er mit gesenkter Stimme hinzu. Ich sagte ein Weile nichts. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob es angebracht war, fragte ich: „Darf ich fragen wie das passiert ist?"
„Klar. Es ist ja kein Geheimnis, dass ich ab und zu mal gedealt habe. Wir waren im Park und ich habe die Polizeistreife nicht bemerkt. Ich wollte grad einem Typ was verkaufen, aber der hat sich schnell aus dem Staub gemacht. Als die Bullen uns dann kontrolliert haben, hat sie den Stoff schnell zu sich genommen, damit mir nichts passiert. Blöderweise hatte ich Handschuhe an und man konnte nicht mal meine Fingerabdrücke nachweisen. Sie hat die ganze Schuld auf sich genommen". Während er erzählte würde seine Stimme immer schwächer. „Außerdem war sie massiv vorbestraft. Mehrfacher Diebstahl, leichte Körperverletzung, Beleidigung von Beamten. Anhand ihres Strafregisters könnte man meinen sie wäre ein richtiges Arschloch, aber das ist sie wirklich nicht. Ich bin mir sicher ihr würdet euch gut verstehen."
Ich rutschte ein Stück näher. „Kannst du sie wenigstens besuchen?", fragte ich mitleidig.
„Ja, ab und zu, aber es ist einfach nicht genug"
Die Geschichte war zwar traurig, aber es tat gut auch mal von anderen zu hören. Die restlichen Wochen hatte ich mich ausschließlich mit meinen Gedanken beschäftigt. Irgendwann schlief ich tatsächlich ein. Ich hatte es geschafft meine Gedanken an Alex so gut wie möglich zu verdrängen.
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When the night is over
Teen FictionTrigger Warning ⚠️: Self harm, alcohol and substance abuse Für die 15-jährige Hope hat das Leben in letzter Zeit einige unschöne Wendungen genommen, doch genau das zeigt ihr, dass man jeden Tag in vollen Zügen genießen muss. Es könnte schließlich d...