Auf der Flucht vor dem Schmerz

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Ihr eigenes Schluchzen hörte sich fremd in Kiras Ohren an, als sie sich über den leblosen Körper beugte. Kalte Tränen liefen ihr übers Gesicht, tropften auf ihre Hand und Ramoses Leiche.

Ramose konnte nicht tot sein... Auch wenn ihre Augen ihr das Gegenteil bewiesen, wollte ihr Verstand nicht daran glauben. Durch den Tränenschleier hindurch starrte sie auf Ramoses Gesicht, welches immer noch lächelte. Als sie aufsah und sich Intefs und ihr Blick trafen, setzte die Erkenntnis ein. Die Realität traf Kira wie ein Dolch im Rücken: Es handelte sich um keinen bösen Albtraum. Ramose war wirklich tot.

„Komm.‟ Zitternd stand Intef auf und zog sie mit hoch.

„Wir müssen hier weg.‟ Mit tränennassem Gesicht hielt er ihr das Aufgeschlagene Notizbuch vors Gesicht. Auf der ersten Seite waren verschiedene Hieroglyphen gezeichnet, darunter stand in lateinischer Schrift: Wenn ich tot bin, lauft. Riskiert nicht, dass sie zurückkommt.

Als Kira die Bedeutung der Wort begriff, nahm sie Intef bei der Hand und zog ihn rasch mit sich. Sie ließen die Schreckensszenerie hinter sich und als sie auf dem Flur standen, blickten sie noch ein letztes Mal zurück. In ihrem Geist sagte Kira Ramose still auf Wiedersehen, während das schwere Portal mit einem lauten Krachen zufiel und sie für immer voneinander trennte.

Ohne eine weitere Sekunde zu zögern, fing sie an zu rennen. Intef hinter ihr stolperte leicht, als sie ihn in Windeseile durch den Palast zog, doch sie wusste, dass sie jetzt nicht anhalten durfte. Jetzt war der Moment, weiterzugehen und nach vorn zu blicken, anstatt stehenzubleiben und sich umzudrehen.

In rasender Geschwindigkeit liefen sie durch den Palast, durch das Haupttor, auf den Vorhof...Kein einziges Mal hielten sie an, flogen die Straßen entlang Richtung Nil.

Adrenalin pumpte sich durch Kiras Adern, als sie die durch Memphis rannte und betäubte den erlittenen Schock. Über das Rauschen in ihren Ohren hinweg hörte sie das sanfte Plätschern des Nils erst, als sie schon am Ufer standen und die sich im Wasser reflektierende Sonne ihre Augen blendete.

Halb schluchzend, halb nach Luft schnappend starrte sie auf das sich wiegende Wasser und bekam das Gefühl, in der nächsten Sekunde umkippen zu müssen.

Als sie einen Blick auf ihren Freund neben sich warf, merkte sie, dass auch er in keiner besseren Verfassung war.

„Lass uns am Hafen ein Boot nehmen‟, sagte Intef plötzlich, ohne sie anzusehen.

„Ich will einfach nur noch hier weg.‟

Kira ging es genauso: Bei dem Gedanken, noch eine Sekunde mehr in Memphis zu verbringen, stiegen ihr erneut Tränen in die Augen. Erneut nahm sie ihren Freund bei der Hand und gemeinsam machten sie sich auf Richtung Hafen.

Das beruhigende Rauschen des Wassers konnte zu Kiras Enttäuschung nicht das Lärmen der Menschen am Hafen übertönen. Stöhnend rieb sie sich die schmerzenden Schläfen, während sie sich mit Intef durch die Menschenmengen drängte, um so schnell wie möglich auf eins der Boote zu gelangen.

Als gerade ein neues Boot anlegte,kamen beide schweigend überein, dass dies das Boot sein würde, welches sie aus Memphis herausbringen würde. Weg von all der Trauer, dem Verlust.

Gemeinsam gingen sie an Bord und starrten auf das klare Wasser des Nils. Seichte Wellen ließen das Boot hin und her schaukeln. Für einen fürchterlichen Moment erinnerte Kira das glitzernde Blau des Flusses an Ramoses Augen. Kopfschüttelnd warf sie den Gedanken ab und ließ sich am Rand des Decks nieder. Kalte Wassertropfen spritzen über ihre vom Boot baumelnden Füße, als sie endlich vom Hafen ablegten. Intef setzte sich neben sie und gemeinsam starrten sie schweigend aufs Wasser. Ein frischer Windstoß traf sie und wehte Kira die Haare ins Gesicht. Noch immer schwiegen beide. Obwohl die Stille zwischen ihnen an ihren Nerven zerrte, konnte sie sich nicht dazu überwinden, das Wort zu ergreifen. Was hätte sie schon sagen sollen? Sie war schon voll und ganz damit beschäftigt, ihre eigenen Gedanken von Ramose fernzuhalten. Schmerzlich musste sie jedoch feststellen, dass die Anwesenheit des Nils nicht gerade hilfreich dabei war, die ehemals strahlend blauen Augen aus ihrem Geiste zu verbannen.

Seufzend löste sie ihren Blick von der Wasseroberfläche und ließ ihn stattdessen über den klaren blauen Himmel gleiten. Als wolle er sie verspotten, zeigte er sich in einem strahlenderen und wolkenfreieren Blau, als sie jemals zu Gesicht bekommen hatte. In der gleißenden Mittagssonne waren ihre Tränen längst getrocknet und hatten nur ein dumpfes Gefühl in ihr zurück gelassen.

Mit einem Mal wurde sie aus ihren trübseligen Gedanken gerissen, als sie spürte, wie sich eine andere, wärmere Hand in ihre schob. Überrascht hob sie den Kopf und blickte in zwei dunkle Augen, die mindestens genauso niedergeschlagen dreinblickten, wie sie sich fühlte, wenn nicht sogar mehr.

„Zum Glück liegt Memphis jetzt hinter uns‟, flüsterte Intef.

Kira drehte den Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen waren, ließ ihren Blick das glitzernde Wasser entlang gleiten – und wirklich, Memphis lag schon ein ganzes Stück weit hinter ihnen. Die hellen Häuserfassaden und grün blühenden Palmen wurden in der Ferne immer kleiner. Als Kira hinter der so strahlend erscheinenden Stadt das Dach des Wesirpalastes hervorblitzen sah, spürte sie einen kleinen Stich im Herzen. Ob Malia schon zurück gekehrt war, um sicherzustellen, dass Ramose tot war? Hatte sein Hofstaat seinen Körper schon gefunden? Allein bei dem Gedanken daran wurde ihr übel. Doch statt sich der Welle aus Trauer, die sich über sie ergoss, hinzugeben, wandte sie ihren Blick wieder flussaufwärts, die Richtung, in die das Boot sie brachte.

„Wohin gehen wir eigentlich?‟, fragte Kira. Als sie am Hafen von Peru Nefer abgelegt waren, hatte keiner von ihnen das Thema angeschnitten, wie es jetzt weiterging.

„Theben liegt flussabwärts.‟ Insgeheim wusste Kira, welchen Weg sie gehen sollten, fürchtete sich jedoch vor dem Gedanken.

„Wir gehen nicht nach Theben.‟ Sowohl psychische als auch physische Müdigkeit zeichneten sich auf seinem Gesicht ab, als er vorsichtig seinen Kopf auf Kiras Schulter legte.

„Flussaufwärts liegt Gizeh. Dort will ich dir etwas zeigen...bevor es weitergeht.‟

Das Kitzeln seiner schwarzen Locken an ihrem Hals sowie Neugier über das, was Intef vorhatte, lenkten sie für einen Moment von ihren düsteren Gedanken ab.

Sie bemerkte, wie er immer wieder mit dem Daumen über das kleine schwarze Notizbuch strich, welches Ramose ihm gegeben hatte, kurz bevor er...

Als sie die kleinen Blutflecken an den Rändern bemerkte, fragte sie sich unwillkürlich, worauf sie sich eingelassen hatte. Ramose hatte ihr das Versprechen abgenommen, das Leben der restlichen Zeitreisenden zu retten. Doch wohin führte sie dieses Vorhaben, und um welchen Preis?

Mittlerweile war ihr klar, dass die Freunde Ramoses wahrscheinlich in einer anderen Zeit oder vielleicht sogar über mehrere Jahrhunderte an verschiedenen Orten verstreut waren. War Malia wirklich darauf aus, sie zu töten, würde sie demnächst wieder die Zeitmaschine aktivieren, um sich zu ihrem nächsten Einsatzort aufzumachen. Würde Kira ihre Scheibe ebenso aktivieren, würde sie Malia folgen. Mit einem Stechen in der Brust stellte sie fest, dass sie sich an einem Scheideweg befand. Entweder in Ägypten bleiben und den Tod weiterer Menschen auf sich nehmen, oder Malia folgen und versuchen, sie aufzuhalten. Eine dritte Möglichkeit, die sie nach Hause zu bringen könnte, fehlte.

Unentschlossen wog Kira beide Wege ab. Würde sie hier bleiben, standen Intef und sie vor dem gleichen Problem wie zuvor. Sie konnten weder zurück gehen und sich in Theben dem Zorn Ahmoses entgegenstellen, noch konnten sie voran schreiten und irgendwie hoffen, sich selbstständig in Ägypten durchschlagen zu können – ohne Zuhause, ohne Arbeit, ohne Geld.

Was würde aus Intef werden, wenn sie sich jetzt in eine andere Zeit aufmachte, um eine wahnsinnige Mörderin aufzuhalten? Sie würden einander nie wieder sehen.

Schweigend drückte Kira Intefs Hand. Die schwere Last ihrer Entscheidung lag wie ein Granitblock auf ihren Schultern und schien sie beinahe zu erdrücken.

Time Traveler - Durch den heißen WüstensandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt