Kapitel 17 – Eine alles umfassende Lüge
11:17 Uhr; Luxanus Sektor, Luxanus HQ
Matthew wartete bereits auf der medizinischen Station auf mich und führte mich zu Max Zimmer. „Er ist noch etwas durcheinander, aber ich denke das sollte sich innerhalb der nächsten Stunde bessern", erklärte er.
„Hast du schon etwas über den Chip herausgefunden?" fragte ich, als wir vor der Zimmertür stehen blieben.
Er schüttelte den Kopf. „Zu minderst nichts, dass uns großartig weiterbringt. Aber es war auf jeden Fall der Chip, der seine Erinnerungen blockierte. Daher denke ich, dass die Chancen sehr hoch sind, dass Max sich wieder erinnern kann."
Ich merkte auf einmal, dass Matthew tief in Gedanken versank. „Alles ok?"
Er sah einen Moment schweigend durch das kleine Fenster in der Tür zu Maxs Zimmer, eh er sich mir zuwandte. „Weißt du, was seltsam ist?"
Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Aber du wirst mich sicherlich jetzt darüber aufklären."
Matt kniff die Augen zusammen, wie er es immer tat, wenn er angestrengt nachdachte. „Max ist nicht wie ihr ein Jugendlicher, er ist 24, also erwachsen. Wenn Tresher ihm wirklich den T-Virus verabreicht hat, kann das frühestens vor sechs Monaten gewesen sein, denn erst da ist der T-Virus auch in seinen Besitz gekommen. Er muss Max den T-Virus und die Genmutation also als Erwachsener verabreicht haben." Er hielt inne und sein Blick wanderte wieder zu Max. „Aber dies funktioniert überhaupt nicht. Die Genmutation kann künstlich nur bei Kindern ausgelöst werden."
Ich sah ihn irritiert an und versuchte ihm zu folgen. „Warte, woher weiß du das? Dass die Mutation nur bei Kindern funktioniert meine ich."
Er schien meine Frage überhaupt nicht wahrgenommen zu haben, sondern schien weiter in Gedanken zu sein. „Tresher ist nicht einmal in der Lage, einen TVI zu erschaffen."
„Bitte was? Er hatte mein Blut, Matt! Vermutlich hatte er doch noch eine zweite Probe, die wir damals nicht zerstört haben."
„Nein", er schüttelte den Kopf. „Jin, Tresher ist nicht in der Lage, einen TVI zu erschaffen, egal ob er dein Blut hat oder nicht. Nicht einmal ich kann einen neuen TVI erschaffen, obwohl ich den T-Virus besitze."
Ich hielt inne. „Aber du hast uns doch in TVIs..."
Matt unterbrach mich. „Ich kann nicht und habe nie keinen TVI erschaffen, Jin. Der einzige, der dies kann, ist Liam McChash."
„Wie bitte?"
Matts Blick schoss wieder zu mir und kurz hatte ich den Eindruck, als hätte er eigentlich mit mir gar nicht darüber reden wollen. „Ich glaube jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir ganz dringend unser Gespräch führen müssen, Jin. Und das am besten, bevor du mit Max redest." Er ergriff meinen Oberarm und schob mich auf den linken Gang. Immer noch verwirrt ließ ich mich von ihm zu seinem Büro führen. Als ich mich an seinem Schreibtisch niederließ, musterte ich Matthew genauer. Er wirkte unruhig, lief mehrmals auf und ab, eh er sich schließlich gegenüber von mir hinsetzte.
„Hör zu", begann er eindringlich. So ernst hatte ich ihn all die Jahre noch nicht gesehen und genau das bereitete mir ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. „Ich weiß nicht in was du hier hineingezogen wirst. Mit den Rebellen, deinen Brüdern, deiner ganzen Familie. Aber du musst etwas wissen, bevor du entscheidest, wem du vertraust." Er fuhr sich durch die Haare und sah immer nervöser aus. „Ich habe euch vier in einem Punkt angelogen, aber diese Lüge war der einzige Weg euch vor ihm zu beschützen."
„Was? Worin hast du uns angelogen? Und vor wem musst du uns beschützen?" brachte ich hervor. „Matt!", fuhr ich ihn an, als er mir nicht antwortete.
Er wirkte gestresst. „Ich weiß gerade nicht, wo ich anfangen soll, Jin."
„Fang einfach ganz vorne an, Matt." Ich versuchte selber ruhig zu bleiben, da ich Matthew so zuvor noch nie gesehen hatte. Er wirkte, als würde ihm das ganze über den Kopf hinauswachsen.
„Ok", seufzte Matthew und schien sich selbst beruhigen zu wollen. „Du hast bestimmt bemerkt, dass Liam McChash und ich uns schon sehr viel länger kennen, habe ich Recht?"
Ich nickte langsam. „Ja, ich hatte da so einen Verdacht."
„Liam war mal mein bester Freund", erklärte Matt und jetzt war ich mir wirklich nicht mehr sicher, ob ich eigentlich wissen wollte, was hier vor sich ging.
„Wir haben uns im Studium kennen gelernt", fuhr er fort. „Während ich Biologie mit Chemie als Nebenfach studiert habe, hat er Medizin mit Biologie als Nebenfach studiert. Wir haben in Biologie zusammen an einem Projekt gearbeitet und uns da angefreundet."
„Ich dachte Liam wäre Sektorenpolitiker?", warf ich irritiert ein.
Matt schüttelte den Kopf. „Eigentlich ist er Arzt mit Spezialisierung zum Genetiker. Und zwar ein verdammt guter Arzt. Sein Vater war Sektorenpolitiker und hat Liam nebenbei alles darüber beigebracht, während er noch Xernox geleitet hat. Auch wenn Liam Arzt ist, hat er das Talent seines Vaters geerbt, mit Sektorenpolitik umzugehen, deshalb hat er es in diesem Job so weit gebracht, ohne dies je studiert zu haben. Aber das ist nicht das, worauf ich hinauswollte. Über Liam habe ich dann Alexander Young, Daniel Tresher und Michael Marver, deinen Vater, kennen gelernt. Alexander und Michael waren um einiges älter als wir und kurz vor ihrem Abschluss in Sektorenpolitik. Liam war schon lange mit Alexander befreundet und hatte so Daniel und Michael kennen gelernt, mich hat er dann im Studium in diesen Freundeskreis integriert. Kurz bevor wir unser Studium abgeschlossen hatten, habe ich erfahren, dass Liam unter einer sehr seltenen Krankheit litt, für die es bis dato kein Medikament gab. Die Krankheit war weitestgehend unerforscht, aber Liam hat versucht selber ein Heilmittel zu entwickeln, womit er aber nie wirklich weit kam. Als wir dann mit unserem Studium fertig waren, übernahm Liam Xernox als Leiter, da sein Vater wegen gesundheitlicher Probleme von diesem Posten zurückgetreten war. Daniel und ich wurden bei Xernox eingestellt, wo Michale schon seit einigen Jahren arbeitete, nachdem er seinen Abschluss hatte. Dort haben wir ungefähr vier Jahre gearbeitet, bis Michael gekündigt hat und Abgeordneter im Regierungsrat wurde und ich auf den Posten des leitenden Wissenschaftlers von Xernox aufgestiegen bin. Daher erfuhr ich kurzdarauf, dass Liam gerade ein Serum fertigstellte, das seine Krankheit aufhalten sollte. Aber das klappte leider immer noch nicht, denn dieses Serum, war die T-Virus, der bei seiner Krankheit keine Wirkung zeigte."
„Moment", unterbrach ich ihn. „Willst du damit sagen, dass du den T-Virus gar nicht entwickelt hast, sondern Liam?"
„Ja, ziemlich genau das ist der Fall", bestätigte er zerknirscht.
„Wie geht's weiter?", drängte ich ihn, als er nicht fortfuhr.
„Liam hat weiter an einem Mittel gearbeitet, bis er ungefähr ein halbes Jahr später tatsächlich ein Medikament hergestellt hatte, das seine Krankheit eindämmt. Danach begann eine ziemlich unruhige Zeit. Es gab irgendwelche Unstimmigkeiten innerhalb der Regierung, heute vermute ich, dass es damals um dieses seltsame Chipsystem ging, von dem Liam vor einem halben Jahr im Racket HQ gesprochen hat. Michael und Liam waren damals darin verstrickt und fingen an, immer häufiger zu streiten. Kurz danach gab es mehrere Attentate auf Regierungsmitglieder, die bis heute nicht aufgeklärt wurden. Liam und Michael waren zwei der Ziele der Attentäter. Liam kam damals schwerverletzt davon, aber seine Freundin und seine Tochter starben. Ein weiteres Attentat war auf deinen Vater und deine Mutter gerichtet. Madison, deine Mutter, ist dabei ums Leben gekommen und Michael überlebte wie Liam nur knapp. Danach war Michael anders. Er sich von uns abgekoppelt und alles für die Sicherheit von dir und deinen Geschwistern getan. Was danach passiert ist, weiß kaum jemand außer Liam und Michael genau. Jonas McChash, Liams älterer Bruder war in irgendetwas Illegales verwickelt, worum es einen riesen Ärger gab. Jetzt sind wir an dem Zeitpunkt angelangt, der sich vor ungefähr 14 Jahren ereignete. Acht Kinder wurden zu uns zu Xernox gebracht. Du, Jason, Laurin, Andrew und 4 weiter Kinder. Du warst damals gerade einmal 3 Jahre alt. Ihr alle ward an der Genmutation erkrankt und da Xernox die beste Medizinische Forschungsabteilung besaß und heute auch immer noch besitzt, erhoffte man sich, euch so helfen zu können. Liam hat mit seinem Ärzteteam eure Mutation genauestens Untersucht und, eigentlich eher durch Zufall, herausgefunden, dass sein T-Virus eure Mutation aufhält. Kurz darauf hat er euch diesen verabreicht. Man hat beschlossen, dass ihr bei Xernox bleiben solltet, damit Liam eure Genmutation im Auge behalten konnte und ihr lernt, mit dem T-Virus umzugehen. Daraufhin hat man euch acht Kinder in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine waren Andrew, Jason, Laurin und ein Mädchen namens Jurin. Die andere Gruppe bestanden aus dir und den drei anderen TVIs. Deine Gruppe wurde von Liam selbst betreut, die andere von Michael, der nun teilweise wieder für Xernox arbeitete und mir. Vier Jahre später eskalierte der Streit zwischen Liam und Michael. Dein Vater misstraute Liam inzwischen und hat daraufhin etwas nachgeforscht. Dabei fand er etwas Schockierendes heraus. Eure Genmutation war überhaupt nicht natürlichen Ursprungs. Liam hatte vor Jahren festgestellt, dass sein T-Virus in Kombination mit einer bestimmen Genmutation Menschen mit speziellen Fähigkeiten erschaffen kann. TVIs. Er und Xernox hatten euch gezielt herausgesucht und euch die Genmutation verabreicht, es so aussehen lassen, als wäre diese natürlich entstanden und euch dann von einer dritten Partei zu Xernox bringen lassen, um euch dann den T-Virus zu verabreichen und TVIs zu erschaffen. Mit euch wollte er Xernox mehr Macht verschaffen.
Als das herauskam, habe ich bei Xernox gekündigt und Luxanus gegründet. Ich habe versucht, euch acht TVIs über die Regierung Luxanus übergeben zu lassen. Mir gelang es allerdings nur, dass du, Jason, Laurin und Andrew zu mir kamt. Was mit den anderen vieren passiert ist, weiß ich nicht genau."
„Warum kann ich mich an all das nicht erinnern?", flüsterte ich beinah, zu mehr war ich gerade nicht in der Lage.
„Weißt du, was Selium ist?"
„Dr. Westfield hat dies doch gestern erwähnt, oder?
Matt nickte. „Es ist eine Substanz, die eine gezielte Amnesie hervorruft. Angeblich kann man diese wieder aufheben, aber kein einziger Arzt weiß wie man das Gegenmittel zusammenmischt. Kurz bevor wir euch von Xernox zu Luxanus brachten, hatte Liam es noch geschafft, euch Selium zu verabreichen, dass eine Amnesie hervorruft."
Schlagartig erinnerte ich mich wieder an die Begegnung mit Silver. Das hatte er damit gemeint, als er sagte, dass mein Gedächtnis manipuliert wäre.
„Danach wandte sich auch Alexander von Liam an, Daniel kündigte und stieg bei Racket ein und was mit deinem Vater geschah, weiß du ja. Er wurde ermordet, weil er zu viel über das Chipsystem wusste, von wem genau weiß bis heute niemand", erzählte Matthew weiter.
Ich starrte einige Minuten stumm auf die Tischplatte, weil ich einfach nicht glauben konnte, was Matthew hier gerade erzählt hatte. Dann wurde mir etwas ganz Schreckliches bewusst. „Wenn Liam die Genmutation bei uns ausgelöst hat, bedeutet das, dass wenn er es nicht getan hätte, wir heute ganz normale und gesunde Menschen wären? Keine genetisch veränderten Menschen?"
Matt sah mir fest in die Augen und nickte schließlich. „Ja, ihr wärt vermutlich niemals an der Genmutation erkrankt."
„Oh mein Gott", murmelte ich leise. Ich schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben, denn so genau wollte ich da gerade eigentlich gar nicht drüber nachdenken.
„Und es gibt noch andere TVIs außer uns? Wo sind sie heute?"
Er schüttelte den Kopf. „Wie gesagt, ich weiß es nicht. Ich gehe Liam aus dem Weg, soweit es als Sektorenleiter möglich ist und habe nie mehr mit ihm darüber gesprochen."
„Du hast etwas von Gruppen gesagt? War das nur fürs Training?"
„Nein, ihr habt in diesen Gruppen zusammengelebt."
Ich setzte mich auf. „Das heißt, ich kannte Laurin, Jason und Andrew damals überhaupt nicht?"
„Nicht wirklich gut. Du und deine Gruppe wart Liams Schützlinge, während Michael und ich Andrews Gruppe betreuten. Ich hatte auch fast gar keinen Kontakt zu deiner Gruppe, dich habe ich erst richtig kennengelernt, als du zu Luxanus kamst."
Ich sah Matt nun direkt an, da mir ein Gedanke kam. „Die drei anderen TVIs aus meiner Gruppe, kennst du ihre Namen?"
„Raven Rajkas, Lennox Sawyer und Max Rhodes."
Und sofort war mein Gedanke bestätigt. „Max Rhodes? Glaubst du, dieser Max und der Max, den wir gerade hier haben, sind ein und dieselbe Person? Schließlich hast du gesagt, dass er den T-Virus schon haben muss, seit er ein Kind ist."
Matthew seufzte und nickte langsam. „Das ist meine Vermutung, aber ganz sicher bin ich mir da nicht."
„Es kann also sehr gut sein, dass ich mit Max zusammen aufgewachsen bin? Vier Jahre lang?"
Wieder nickte der Leiter von Luxanus und fuhr sich durch die Haare.
Ich setzte mich auf. „Warum hast du uns das all die Jahre vorenthalten und uns vorgelogen, dass der T-Virus von dir wäre?"
Matthew seufzte. „Ich wollte nicht, dass ihr mit dem Wissen aufwachset, dass ihr eigentlich ein ganz normales Leben führen könnten, wenn Liam nicht auf die Idee gekommen wäre, euch zu missbrauchen, um an mehr Macht zu kommen. Außerdem, umso weniger ihr wüstetet, umso sicherer ward ihr vor Liam. Denn heute spricht keiner von uns mehr über diese Geschichte und wir gehen Liam alle aus dem Weg."
Ich erhob mich und umklammerte die Tischkante mit beiden Händen. „Du hast uns also unser ganzes Leben lang angelogen, weil du glaubtest, uns so vor Liam schützen zu können?", knurrte ich wütend. „Mann Matthew! Du warst der einzige Mensch, dem ich in den letzten Jahren uneingeschränkt und ohne auch je nur eine Sekunde darüber nachzudenken vertraut habe! Und jetzt erzählst du mir, dass alles, was du je über und TVIs und den T-Virus erzählt hast, eine einzige riesen große Lüge war?" Ich ließ von dem Tisch ab und trat ein paar Schritte zurück. „Hast du eine Ahnung, wie sich das anfühlt, wenn sein ganzes Leben eine Lüge ist?"
Pass auf, wem du vertraust. In dieser Stadt ist nichts, wie es zu sein scheint. Silvers Worte gaben auf einmal Sinn. Meinte er wirklich Matthew damit?
„Jin, bitte...", setzte er an, doch ich ließ ihn gar nicht erst aussprechen.
„Nein, Matt. Ich muss das erstmal verdauen." Damit drehte ich mich um und verließ beinah fluchtartig den Raum. Ich war enttäuscht. Enttäuscht von dem Mann, der für mich immer wie ein Vater war.
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SKYLINE - Rebellion
Science FictionTeil 2 der Skyline Reihe. Jin und die TVIs haben es zwar geschafft, die Blutproben zu zerstören, mit denen Daniel Tresher versuchte neue TVIs zu schaffen, aber sie konnten die Machtgier von Tresher nicht stoppen. Zu allem Übel wurde dieser nun zum P...