Langsam und leicht gebückt zog der bärtige Mann durch die Straßen. Immer wieder versuchte er seinen braunen Mantel, der ihm nun schon seit Jahren verlässlich diente, zuzuknöpfen. Seine Hände waren jedoch durch den kalten Wind, den der Winter mit sich gebracht hatte, fast eingefroren, fühlen konnte er sie schon lange nicht mehr.
Er schloss seine Augen, als ihm ein weiterer kühler Windstoß ins Gesicht schlug. Ruckartig blieb er stehen und rang mit offenem Mund nach Luft, die zu seinem Bedauern auch gleich wieder zurückkehrte. Eine einzelne Träne rollte über seine Wange. Sein ganzer Körper tat ihm unheimlich weh und er wünschte sich nichts sehnlicher als den Tod, der ihn niemals ereilen würde. Nicht solange es noch Pläne mit ihm hatte.
Seit fünf Jahren war er ein Mann ohne ein zu Hause. Ein Mann ohne Familie und Freunde. Seit fünf Jahren zog er durch diese Stadt, kannte jede Ecke, in der man nachts gefahrlos schlafen konnte. Jede Brücke, unter die man schlüpfen konnte, wenn es regnete. Und dennoch fühlte sich diese Stadt, die er einst gemocht hatte, unsagbar fremd an. Nichts an diesem Ort erinnerte mehr an vergangene und glückliche Tage. Nichts, außer dem kleinen Café, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand und ihn förmlich anlockte.
Der bärtige Mann lächelte leicht, auch wenn seine Gesichtsmuskeln keine richtigen Bewegungen mehr zuließen. „Carla“, flüsterte er. Mit einer plötzlichen Wärme in der Brust stieg er vorsichtig vom vereisten Gehsteig hinunter auf die Straße, den Blick starr auf das Café gerichtet, in welchem sie so gerne gearbeitet hatte. Er konnte sie deutlich vor sich sehen, sie lächelte, ihre braunen Augen strahlten. „Carla“, wiederholte er, diesmal lauter. Doch sie hörte ihn nicht, sie hörte ihn nie.
Das Hupen eines Autos riss den Mann aus seinen wundervollen Gedanken. Sein Kopf schnellte in die Richtung aus der das Geräusch kam, dann traf ihn etwas Hartes. Nur langsam fühlte er einen dumpfen Schmerz, ehe sich eine endlose Dunkelheit über seine Augen legte und ihn der lang ersehnte Frieden erreichte.
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Abysses
Mystery / ThrillerJeder Fehler, den wir begehen, wird aufgezeichnet. Jeder Schritt, den wir machen, wird beobachtet. Jede Entscheidung, die wir treffen, wird analysiert. Jeder Mensch, den wir kennen, verbirgt tiefe Abgründe.