Adam saß in einem alten dunkelbraunen Flechtstuhl auf der Veranda und beobachtete die Blätter des Apfelbaumes, die vom leichten Wind aufgewirbelt wurden. Ein kleines hölzernes Windspiel bewegte sich und ein hohler Klang ertönte. Er schloss seine Augen und atmete bewusst ein und aus.
Adam mochte diesen Ort. Er mochte diese Ruhe, die er in seiner Heimatstadt nie erfahren hatte. Stille war ihm unbekannt, nie hatte er sich danach gesehnt. Adam war ein Stadtkind, er fühlte sich an lauten Orten wohl. Umso überraschter war er also, als der Wunsch nach immerwährender Stille in ihm hochkam. Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte er sich seinen Gedanken hingeben, ohne abgelenkt zu werden.
„Sie sitzen seit zwanzig Minuten hier draußen. Sind sie zu einer Entscheidung gekommen?“
Adam öffnete langsam seine Augen und sah zu Masterson, der mit verschränkten Armen neben dem Stuhl stand und in die Ferne blickte. Er hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt und wirkte dadurch wie Keanu Reeves in Matrix. Langsam wanderte sein Blick zu Adam, seine rechte Augenbraue zog er fragend nach oben.
Adam überlegte kurz und fuhr sich durch seine zerzausten Haare.
„Als ich dreizehn war hatte ich mich mit einem Mädchen auf dem Schulhof geprügelt. Ich erinnere mich nicht mehr an den Grund, es war wohl etwas belangloses.
Sie hieß Stephanie, war ein Jahr älter und einen Kopf größer als ich. Nachdem sie mich gestoßen hatte, fiel ich auf den Betonboden und schlug mir mein Kinn auf. Es hatte stark geblutet und musste genäht werden. Und Stephanie.. ihr war noch nicht einmal ein Nagel abgebrochen. Die Schule kontaktierte meinen Vater, der mich in den Ferien zur Strafe zu meinem Großvater nach Texas schickte.“
Adam seufzte. „Ich stieg aus dem Zug, mit einer großen Tasche in jeder Hand und versuchte in der dichten Menschenmasse meinen Großvater zu finden. Als ich ihn nach einigen Minuten noch immer nicht gefunden hatte geriet ich in Panik. Ich stellte mir vor wie ich in der Bahnhofshalle die Nacht verbrachte. Wie mich ein betrunkener Obdachloser entführen oder ausrauben würde. Ich war den Tränen nahe, bis ich meinen Großvater plötzlich entdeckte. Auch er sah sich hektisch in der Halle um und es dauerte nicht lange, bis mich sein Blick traf. Ich konnte sehen, dass er tief ausatmete und gleich darauf kaum merklich lächelte. Er setzte sich in Bewegung und ich war so unglaublich erleichtert, dass ich schreien wollte.“
Adam schloss seine Augen. Seine Handflächen waren nass und ihm wurde schlagartig übel.
„Und dann fielen plötzlich drei Schüsse. Ich blieb wie angewurzelt stehen, während die Menschen um mich herum schrien und panisch versuchten den Ausgang zu erreichen. Es wurde gestoßen und gedrängelt, dann hörte man weitere Schüsse. Ich weinte inzwischen und schrie nach meinem Großvater, doch meine Stimme ging in dem Geschrei der anderen Menschen völlig unter.
Jemand rammte mir seinen Ellenbogen in den Rücken und plötzlich fiel ich. Mit den Händen versuchte ich meinen Kopf zu schützen, schreiend und weinend.“
Schweißperlen hatten sich auf Adams Stirn gebildet. Die bloße Erinnerung an das Geschehene nahm ihn furchtbar mit.
„Nachdem noch viele weitere Schüsse gefallen waren, kehrte plötzlich absolute Stille ein. Meine Beine taten mir unheimlich weh und ich traute mich nicht aufzusehen. Ich wartete ab, so lange, bis ich das Gefühl hatte, dass niemand mehr da war. Langsam stützte ich mich mit meinen Händen auf. Das Atmen fiel mir schwer, meine Brust tat weh. Ich ließ meinen Blick über den Bahnsteig gleiten und verfiel wieder in Panik. Ein dutzend Menschen, Männer und Frauen, lagen reglos auf dem Boden. Ich hoffte, dass sie gleich aufstehen, sich den Staub von der Kleidung klopfen und den Bahnhof verlassen würden.“
Adam schüttelte seinen Kopf. „Es war der siebte Juli 2003. Sieben Verletzte, fünfzehn Tote. Mein Großvater war einer dieser fünfzehn Menschen. In den Nachrichten sagten sie, dass es ein ehemaliger Soldat mit posttraumatischer Belastungsstörung war.“
Tom, der sich während der ganzen Geschichte nicht bewegt hatte, räusperte sich. „Warum erzählen Sie mir das? Damit ich Mitgefühl für Sie entwickle?“
Adam lächelte kraftlos und schüttelte seinen Kopf. „Nein, Tom. Ich will, dass wir den Tod meines Großvaters und der anderen vierzehn Menschen verhindern. Nur unter dieser Bedingung bin ich bereit in Ihr Team zu kommen.“
„Nicht ich suche die Aufgaben aus, die zu erledigen sind. Und schon gar nicht Sie, Mr. Sawyer.“
„Dann sprechen Sie mit Mr. S.“
Tom seufzte. „Gut, ich spreche mit ihm. Aber nur, weil ich nicht schon wieder einen Neuen in diese Sache einführen will.“
Adam nickte. „Beantworten Sie mir nun meine restlichen Fragen?“
„Zuerst gehen wir wieder auf die Reise.“ Masterson kratzte sich am Kopf und grinste dann breit. „Aber jetzt mal im Ernst. Sie wurden von einem Mädchen verprügelt?“
Er lachte laut auf und klatschte in die Hände. „Erzählen Sie das bloß keinem mehr, solche Geschichten behält man lieber für sich.“
Tom näherte sich Adam und bevor dieser noch etwas erwidern konnte, griff ihm Masterson fest in den Nacken.
-
„Wachen Sie auf!“ Tom ohrfeigte den auf dem Teppichboden liegenden Adam und verdrehte genervt seine Augen.
„Mr. Sawyer!“, rief er ungeduldig und schlug ihm dabei wieder auf die Wangen.
„Immer wieder der gleiche Mist mit den Neuen“, fluchte er leise, entfernte sich von Adam und betrat das fensterlose kleine Badezimmer. „Aber was erwartet man von einem Kerl, der von einem Mädchen verhauen wurde. Ich hätte ihn gleich zurückschicken sollen, alleine bin ich besser dran.“
Er nahm einen weißen Kanister, der unter dem kleinen verkalkten Waschbecken stand und die Wassertropfen des undichten Rohrs auffing. Tom drehte den Hahn auf und verzog angewidert das Gesicht, als das Wasser erst braun und dann klar wurde.
„Aber werde ich gefragt? Natürlich nicht.“
Er war von Anfang an gegen einen neuen Gehilfen gewesen. Schließlich wusste er aus Erfahrung, dass es ihn Kraft, Nerven und vor allem Zeit kosten würde, wenn sich ein Neuer in seine Arbeit einmischte. Und letzteres hatte er kaum.
Nachdem Tom den Kanister zur Hälfte gefüllt hatte, kehrte er zu Adam zurück, der noch immer weggetreten war. Ohne zu zögern schüttete er den gesamten Inhalt über ihm aus und sah dann dabei zu, wie er hustend hochschreckte und sich hektisch im Raum umsah.
„Gut, Sie sind wach. Wir müssen los.“
„Wo sind wir?“ Adam fasste sich an seinen pochenden Kopf.
„Nach wie vor in Texas.“ Tom ging auf die Tür zu und umfasste den Knauf. „Los jetzt.“
Adam stand auf und sah auf seine nasse Kleidung hinunter. „Kann ich noch ins Badezimmer?“
Masterson öffnete die Tür. „Für Make-up ist jetzt keine Zeit.“
Er verließ den Raum, Adam folgte, obwohl er Schwierigkeiten hatte, mit Toms Tempo mitzuhalten. Sie gingen durch einen gelb gestrichenen Flur, mit Nummern versehene braune Türen ließen vermuten, dass sie sich in einem Billighotel befanden.
„Nicht einschlafen, Mr. Sawyer. Wir hängen deutlich hinter dem Zeitplan.“
Tom ging bereits so schnell, dass Adam fast schon laufen musste, um hinterherzukommen. „Was machen wir jetzt?“
Sie verließen das Hotel und Masterson winkte nach einem Taxi, das auch gleich neben ihnen zum Stehen kam. „Rein da“, befahl er und blickte auf seine Uhr.
„Sie haben höchstens zehn Minuten, um uns zu dieser Adresse zu bringen.“ Tom drückte dem Fahrer einen Zettel in die Hand, dieser sah ihn sich an und schüttelte überzeugt den Kopf.
„Ich brauche mindestens fünfzehn. Die Adresse ist ziemlich weit draußen, Sir.“
„Fahren Sie endlich“, entgegnete Masterson genervt und richtete dann das Wort an Adam.
„Ich hoffe, Sie haben Eier in der Hose.“
DU LIEST GERADE
Abysses
Mystery / ThrillerJeder Fehler, den wir begehen, wird aufgezeichnet. Jeder Schritt, den wir machen, wird beobachtet. Jede Entscheidung, die wir treffen, wird analysiert. Jeder Mensch, den wir kennen, verbirgt tiefe Abgründe.