Kapitel 21

2.5K 147 6
                                    

Völlig überfordert mit der Situation blieb ich einfach nur stehen, weil ich zu unfähig war, das Gesehene zu verarbeiten. Doch dann riss ich mich zusammen und betrat das Haus. Greta fiel mir sofort in die Arme und ich streichelte mit meiner rechten Hand beruhigend über ihren Kopf. Wir blieben einfach so stehen. Mitten im Flur. Plötzlich sackte sie zusammen. Ich wollte sie halten, aber es ging alles zu schnell. Wie ein Häufchen Elend saß sie auf dem Boden und weinte. »Verrätst du mir jetzt, was passiert ist?«, fragte ich vorsichtig und die Frage brachte sie nur noch mehr zum Weinen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also beschloss ich, dass ich einfach für sie da sein wollte. Ich setzte mich ebenfalls auf den Boden und griff nach ihrer Hand. Es war still im Haus, nur ihre Schluchzer waren zu hören, die ganz langsam immer leiser und weniger wurden. Sie hatte schon ganz rote Augen. »Soll ich dir einen Tee machen?«, flüsterte ich ihr leise zu. Ich wollte sie nicht bedrängen, ich musste ihr etwas Zeit geben. Sie musste von sich aus sprechen, wenn sie dazu bereit war. Greta nickte. »Ein Tee wäre schön.« Ich stand auf uns zog sie nach oben. Es war heute nicht allzu heiß, es sollte noch gewittern, worüber ich gerade sehr froh war. »Komm, wir gehen ins Wohnzimmer.« Panisch sah sie mich an und riss die Augen auf. »Nein, bitte nicht ins Wohnzimmer!«, schrie sie leise auf und fing sofort wieder an zu weinen. »Alles klar, dann gehen wir in die Küche, ok?« Heftig nickte sie und wir gingen gemeinsam in die Küche. Ich setzte das Wasser auf. Warum wollte sie nicht ins Wohnzimmer gehen? Was war da passiert?

»Ich gehe nur mal kurz auf die Toilette. Bin sofort wieder da.« Nervös saß Greta auf dem Stuhl und fummelte sich an der Hose umher. Ich verließ die Küche und schlich mich ins Wohnzimmer, um mir einen Überblick zu verschaffen. Vielleicht fand ich einen Hinweis, was mit ihr passiert war. Vor Schreck blieb ich stehen. Auf dem Boden waren mehrere Blutflecke. Ich wollte mich gerade bücken, um sie näher zu betrachten, da hörte ich einen lauten Aufschrei und Geschirr auf den Boden aufknallen. Sofort lief ich zurück. »Es tut mir leid«, wimmerte Greta und ich sah, dass meine Tasse in tausend Einzelteile zersprungen war. »Hey, es ist alles gut. Das ist doch nur eine blöde Tasse. Ich hole einen Handfeger und die Müllschaufel.« Aus der Abstellkammer besorgte ich die Dinge und musste wieder an das denken, was ich gerade im Wohnzimmer gesehen hatte. Ich kümmerte mich um die Tasse und nahm eine neue aus dem Schrank. Dann stellte ich den Tee vor Greta ab und wir saßen schweigend da. Sollte ich einen zweiten Versuch wagen? Oder sollte ich ihr noch Zeit geben?

Sie nahm mir die Entscheidung ab. »Gestern Abend...«, fing sie an und ihre Hände zitterten heftig. Ich griff nach ihnen und hielt den Atem an. »Paul wollte mit mir reden.« Sie schloss die Augen und atmete ein und aus. Als sie weitersprach, öffnete sie die Augen wieder. Man sah ihr an, wie viel Kraft es sie kostete, darüber zu sprechen. »Er wollte eine zweite Chance. Ich... also er... er hat mir gesagt, wie sehr er mich noch liebt. Ich habe ihn gebeten, zu gehen. Aber er... wollte nicht.« Sie machte eine Pause und trank einen Schluck Tee. Mein ganzer Körper stand unter Anspannung. Was hatte er ihr angetan? »Er wollte Sex mit mir... harten, wilden und dreckigen Sex.« Wieder schloss sie die Augen. »Das hat er mir ins Ohr geflüstert, als er mich festgehalten hat, um mich auszuziehen. Wie konnte ich nur jahrelang mit diesem Menschen zusammen sein?« Ich musste schlucken. Er hatte sie vergewaltigt? Sie sagte nichts mehr, doch zeigte mir ihre Arme. Man erkannte deutlich, an welchen Stellen er sie angepackt hatte. »Hat er... hat er dich... vergewaltigt?« Stumm blickte sie ins Leere und ich konnte beobachten, wie sich ihre Augen wieder mit Tränen füllten.

»Dieses blöde Schwein! Nur weil er betrunken war, gibt es ihm noch lange nicht das Recht, so mit dir umzugehen.« Ich spuckte die Wörter förmlich aus und machte mir so unglaublich viele Selbstvorwürfe. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, als ich Greta mit Paul allein gelassen hatte? Ich hatte doch dieses ungute Gefühl in mir, warum zur Hölle bin ich nach Hause gegangen? Mir wurde übel. Ich sprang auf und beugte mich über die Spüle und entleerte mich. Ich hoffte, ich würde die Gefühle ebenfalls ausspucken. Aber das war natürlich absurd. Etwas wackelig auf den Beinen ging ich zurück an den Tisch und setzte mich wieder. »Nein, er hat mich nicht vergewaltigt.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Was hast du gesagt?« Sie blickte mir in die Augen. »Er hat mich nicht vergewaltigt.« Ein Stein fiel mir vom Herzen. Er hatte sie nicht vergewaltigt? Ich war unglaublich froh darüber. Natürlich war es trotzdem eine versuchte Vergewaltigung und Körperverletzung, auch das durfte man nicht unterschätzen. »Ich habe mich gewehrt. Erst hatte ich keine Kraft, aber dann habe ich an dich gedacht. An uns. Und plötzlich ging es. Ich habe ihn geschubst und er ist mit dem Kopf aufgeschlagen auf dem Boden. Er hat stark geblutet und dann hat Paul fluchtartig das Haus verlassen.« Mein Herz raste. »Aber woher kommt das blaue Auge?«, wollte ich von ihr wissen. »Er hat mir ins Gesicht geschlagen. Was ist, wenn er wieder kommt? Wie soll ich Lina erklären, was ihr Vater getan hat?« Paul hatte sie wirklich geschlagen, dieses kranke Arschloch. »Wir müssen ihn anzeigen«, appellierte ich an sie. »Wir müssen zur Polizei gehen.« Wild schüttelte sie mit dem Kopf. »Er darf nicht davon kommen. Wer weiß, was er in Zukunft tun wird?« Ihre Hände fingen wieder an zu zittern. Ich nahm sie und Greta sagte: »Ich weiß, aber ich fühle mich so wertlos. Fast hätte er es getan. Es ist unvorstellbar.« Ich küsste ihre Hand. »Ich bin so froh, dass du dich verteidigen konntest. Ich lasse dich nicht mehr alleine. Das schwöre ich dir.« Sie lächelte mir leicht zu. »Aber trotzdem, wir müssen ihn anzeigen«, sagte ich beharrlich. »Ja, in Ordnung.« Sie hatte zugestimmt!

Kurze Zeit später waren wir auf dem Weg zur Polizei und zeigten Paul an. Es fiel Greta schwer, darüber zu sprechen, aber sie schlug sich wunderbar in dieser Situation. Sie war eine starke Frau. Der Polizist nahm sich Zeit für uns und war sehr einfühlsam. Er riet uns, dass wir ins Krankenhaus fahren und Greta sich abchecken lassen sollte. Auch das taten wir. Es waren keine allzu schlimmen Verletzungen. Natürlich war ihr Körper ein großer blauer Fleck, aber innerlich war alles gut. Jedenfalls das, was die Organe betraf. Es würde einige Tage dauern, aber sie würde keine körperlichen Schäden behalten. Da es zu einem traumatischen Erlebnis werden konnte, wurde ihr ein Psychologe, der auf so etwas spezialisiert war, empfohlen. »Passen Sie bitte gut auf sie auf, sie sollte zu diesem Termin gehen«, meinte die Ärztin zu mir, als Greta es nicht mitbekam. »Ja, ich achte darauf.« Dann verließen wir das Krankenhaus und ich fuhr sie nach Hause. Als ich geparkt hatte, blieben wir im Auto sitzen. »Danke, dass du da bist«, flüsterte sie mir zu. »Ich werde immer für dich da sein, Greta.«

Über Nacht blieb ich bei ihr und kümmerte mich um sie. Als wir am nächsten Nachmittag auf ihrer Couch saßen, ich hatte die Blutflecke gestern Abend noch entfernt, klingelte ihr Handy. Sie starrte es nur an. »Soll ich das Gespräch annehmen?«, fragte ich zögerlich, aber sie griff selbst danach. »Ja?« Der Gesprächspartner stellte eine Frage. »Ja, das bin ich. Richtig.« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich und ihre Augen wurden immer größer. »Ich verstehe«, antwortete sie. »Nein, ich bin nicht alleine.« Sie hörte wieder zu. »Ja, danke. Bis dann.« Dann legte sie auf und ließ das Handy auf die Couch fallen. »Wer war das? War das die Polizei? Haben sie Paul gefunden?« Sie sagte nichts, war total abwesend. Ich wartete ab. Ich wusste, sie hatte die Frage gehört. Nach einer ganzen Weile antwortete sie mit einer monotonen Stimme: »Nein, sie haben ihn nicht gefunden. Er ist nicht auffindbar. Er hat sein Handy aus und ist nicht zu erreichen. Sie denken, er ist geflüchtet.« Oh, Gott. Das durfte doch nicht wahr sein. Wenn ich ihn in die Finger bekam, dachte ich. Dann konnte er sich auf etwas gefasst machen.

Auch in den nächsten Tagen gab es nichts Neues. Er war noch immer spurlos verschwunden. Je mehr die blauen Flecke verschwanden, desto mehr zog sie sich zurück. Ich bereitete gerade Frühstück für sie vor, als es an der Tür klingelte. Greta regte sich nicht und starrte mich mit großen Augen an. »Ich gehe schon«, sagte ich und ging zur Tür. Als ich öffnete, stand Paul vor mir. Sofort entfachte sich die Wut in mir und schaffte sich Platz in jeder einzelnen Zelle in mir. Ich konnte mich nicht beherrschen und schlug ihm mit meiner Faust mit voller Wucht ins Gesicht, bevor er irgendetwas sagen konnte.

The way I feel for her || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt