Kapitel 3

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Am nächsten Morgen werde ich von Effie Trinket geweckt, die an meine Tür klopft und fröhlich ruft: „Auf, auf, auf! Das wird ein ganz, ganz großer Tag heute!" Doch als ich aufstehe und mich fertig machen will, fällt mir auf, dass ich noch die Sachen von der Ernte gestern anhabe. Hä, wieso habe ich mir vor dem Schlafengehen nicht noch etwas anderes angezogen? Dann fällt es mir wieder ein. Ich bin eingeschlafen, während wir die Zusammenfassung der Ernten geschaut haben! Irgendjemand muss mich danach ins Bett getragen haben. Wahrscheinlich der Junge aus meinem Distrikt, überlege ich. Denn ich bezweifle, dass Effie das machen würde und Haymitch war gestern ja nicht einmal bei uns, soweit ich mich erinnern kann. Oh man, das ist so peinlich! Ich wurde von jemandem ins Bett gebracht, von dem ich noch nicht einmal den Namen weiß!

Da Effie noch gesagt hat, dass es jetzt Frühstück gibt, suche ich mir aus den Kleidungsstücken, die hier im Zug sind, ein schönes T-Shirt und einen passenden Rock dazu aus. Katniss' Sachen falte ich ordentlich zusammen und lege sie auf mein Bett, sodass ich sie, wenn wir im Kapitol ankommen, direkt mitnehmen kann. Dann gehe ich in den Speisewagen, wo Haymitch mich sofort zu sich winkt: „Setz dich! Setz dich!", ruft er. Ich wundere mich ein wenig darüber, schließlich hat es gestern nicht so ausgesehen, als ob er irgendetwas mit den Tributen zu tun haben will, aber ich gehe trotzdem zu dem Platz neben ihm und kaum habe ich mich hingesetzt, kommt auch schon jemand und bringt mir eine riesige Platte voll mit Essen. Zuerst bin ich mir unsicher, ob ich das wirklich alles für mich ist, denn es ist so viel, dass meine Mutter, Katniss und ich, eine Woche davon satt werden können, wenn wir sparsam damit umgehen. Da aber niemand etwas dagegen sagt, denke ich, dass es in Ordnung ist und fange an zu essen.

Eine gute halbe Stunde später bin ich so satt, dass es mir so vorkommt, als ob ich nie wieder auch nur einen Bissen zu mir nehmen kann. Aber dann zeigt der Junge, von dem ich den Namen immer noch nicht weiß, auf eine Tasse mit einem tiefbraunen Getränk, das ich noch nie gesehen habe. „Das ist heiße Schokolade.", meint er. „Ist lecker." Zuerst denke ich, dass ich nicht einmal einen Schluck trinken kann, aber diese heiße Schokolade schmeckt so gut, dass ich die ganze Tasse ausschlürfe und sogar noch nachschenke. „Danke!", sage ich erfreut. „Das schmeckt echt gut!" „Ich weiß.", lacht er nur. „Kann ich nach dem Essen mal mit dir reden?", frage ich schüchtern. Es ist mir unangenehm, aber schließlich muss ich mich ja irgendwann bei ihm bedanken, dass er mich gestern ins Bett gebracht hat und das mache ich am Besten direkt nach dem Frühstück, denn, je länger ich damit warte, desto unglaubwürdiger kommt es an. Ich seufze. Außerdem kann ich ihn bei der Gelegenheit direkt nach seinem Namen fragen, so peinlich das auch wird. „Klar! Worum geht's denn?", antwortet er jetzt. Na gut, dann reden wir halt jetzt, denke ich leicht genervt. Aber eigentlich ist es ja auch egal, ob wir jetzt oder später reden. Mal abgesehen davon, dass Haymitch und Effie uns jetzt zuhören werden und es somit dreimal so peinlich für mich wird! „Ich wollte mich bei dir dafür bedanken, dass du mich gestern ins Bett getragen hast.", bringe ich schnell hervor. So, jetzt ist es raus. Jetzt fangen wahrscheinlich gleich alle an, mich auszulachen!

„Bist du ganz sicher, dass ich das war?" „Was?" „Ich habe dich gefragt, ob du dir sicher bist, dass ich dich ins Bett getragen habe.", meint er mit einem scheinheiligen Grinsen. Das verwirrt mich und einen kurzen Moment lang bin ich mir tatsächlich nicht mehr sicher. Was ist, wenn er es wirklich nicht war? Dann ist die ganze Sache ja noch peinlicher, als ich gedacht habe! Aber dann komme ich zur Besinnung. Nein. Er muss es gewesen sein. Er stellt dich gerade nur auf die Probe und testet, wie leicht du zu verunsichern und zu beeinflussen bist. Also antworte ich, so selbstsicher, wie möglich: "Natürlich, wer denn sonst?". Das bringt ihn zum Lachen: „Stimmt! Und das muss dir nicht peinlich sein. Das habe ich doch gerne gemacht!" „Danke!", meine ich überrascht. Wieso ist er so nett? Ich dachte, er lacht mich aus! Aber jetzt kann ich ihn vielleicht doch nach seinem Namen fragen, ohne vor Scham im Boden zu versinken! „Es gibt da aber noch eine Sache...", füge ich also, nur etwas kleinlauter, hinzu. „Ach so! Du weißt jetzt natürlich nicht, wie die ganzen Tribute heißen, oder?", fragt er. „Genau!", antworte ich. Das ist zwar nicht genau das, was ich meinte, aber es stimmt! Ich weiß weder seinen Namen, noch die, der anderen Tribute.

"Vielleicht können wir uns die Zusammenfassung im Kapitol noch einmalanschauen", überlegt er. „Das ist eine gute Idee, danke. Du bist echt nett!", bedanke ich mich bei ihm. Doch da ruft Effie Trinket auf einmal aufgebracht: „Das geht nicht! Sobald wir im Kapitol ankommen, was nicht mehr lange dauern kann, werdet ihr euren Stylisten übergeben, die euch fertig für die Eröffnungsfeier machen! Da bleibt keine Zeit, die Zusammenfassungen anzuschauen!". Nach einer kurzen Pause fügt sie noch hinzu: „Außerdem liefen die ganzen Zusammenfassungen gestern schon. Heute kann man sie sich gar nicht mehr anschauen." Einen Moment lang denke ich, dass sie noch so etwas wie: „Prim ist selbst schuld, wenn sie einfach währenddessen einschläft! Jetzt muss sie die Konsequenzen tragen!", sagt, aber es kommt nichts mehr. Dann halt nicht. Dann kenne ich die Namen der anderen Tribute halt nicht. Aber in der Arena ist es sowieso egal, wie die alle heißen. Schließlich macht es keinen Unterschied, ob ich den Namen von demjenigen kenne, der mich umbringt. Tod bin ich dann ja trotzdem...

Irgendwie bringen mich diese Gedanken auf Haymitch. Als unser Mentor ist er ja eigentlich dafür verantwortlich, dass wir nicht sterben. Aber mal abgesehen davon, dass er vorhin wollte, dass ich mich neben ihn setze, hat er noch kein einziges Mal mit uns geredet.
Stattdessen hat er beim Frühstück nur irgendeinen Alkohol getrunken und jetzt ist er wahrscheinlich nicht mehr in der Verfassung über eine Strategie oder so etwas in der Art zu reden, denke ich grimmig und je mehr ich darüber nachdenke, desto wütender werde ich: Es ist ja kein Wunder, dass Distrikt 12, seit dem Jahr, in dem Haymitch gewonnen hat, keinen Sieger mehr hatte, wenn Haymitch nichts Besseres zu tun hat, als sich den ganzen Tag zu betrinken!
Doch gerade, als ich ihm genau das vorwerfen will, fährt unser Zug ins Kapitol ein. Sofort ist meine Wut um Haymitch vergessen und ich renne ans Fenster. Bis jetzt kannte ich das Kapitol nur aus dem Fernsehen, aber die Wirklichkeit übertrifft meine kühnsten Träume! Die ganzen Farben sind sogar so grell und knallig, dass ich im ersten Moment geblendet werde! Die glänzenden Autos fahren über breite Asphaltstraßen und die Gebäude, die im den Himmel ragen, verschwinden oben sogar in den Wolken! Nur die Leute, die herum laufen, trüben den Gesamteindruck etwas. Nicht, dass sie nicht genauso hell und farbenfroh angezogen sind, - ganz im Gegenteil - aber die neon-gefärbten Haare, die Gesichtsbemalungen und die komischen Kleider, die sie tragen, wirken künstlich und das sieht in meinen Augen einfach nicht mehr schön aus.
Trotzdem bleibe ich, genau wie mein Distriktpartner, am Fenster stehen und als die Leute unseren Zug entdecken und aufgeregt auf uns zeigen, lächeln wir und winken ihnen zu. Es kann ja schließlich nicht schaden, wenn die Leute im Kapitol uns mögen

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