Einen Augenblick denke ich, ich habe mich verhört. Es kann doch gar nicht sein, dass ich ausgelost wurde, mit einem einzigen Zettel in der Kugel. Als jedoch keiner vor mir auf die Bühne geht und ich merke, dass mich die Leute komisch anstarren, wird mir klar, dass doch ich gemeint bin. Ich, Primrose Everdeen, gerade mal zwölf Jahre alt, hatte nur einen kleinen Zettel in der Kugel und muss jetzt in die Hungerspiele! Das ist doch so gut wie unmöglich! Doch es hilft alles nichts. Ich muss auf die Bühne. Wie in Trance laufe ich zu Effie, aber anders als in meinem Alptraum, bin ich nicht im nächsten Moment in der Arena, sondern auf dem Podest neben Effie. Doch das ist auch nicht viel besser...
Ich versuche mich zusammenzureißen und die Tränen zurückzuhalten, die sich in meinen Augen angesammelt haben. Ich darf jetzt nicht weinen! Nicht jetzt, wo jeder mich anschaut! Ich darf jetzt nicht schwach wirken! Also stelle ich mich so aufrecht wie möglich hin und versuche irgendwo in die Ferne zu schauen. Bloß nicht zu der Menschenmenge, die vor mir steht!, denke ich. Denn wenn ich jetzt Katniss oder meine Mutter sehen würde, wäre es vorbei mit meiner Selbstbeherrschung.
Allerdings bin ich so darauf konzentriert, nicht zu den Leuten vor mir zu schauen, dass ich gar nicht mitbekomme, wie der männliche Tribut ausgelost wird, auf die Bühne kommt und sich neben mich stellt. Erst als wir uns die Hände reichen sollen, fällt mir auf, dass ich nicht einmal seinen Namen weiß. Aber das ist jetzt erst einmal egal, sage ich mir, den kann ich ja später immer noch herausfinden. Jetzt habe ich definitiv größere Probleme.
Nachdem wir uns die Hände geschüttelt haben und die Hymne von Panem gespielt wurde, führen mich ein paar Friedenswächter in einen schönen Raum im Gerichtsgebäude. Dort habe ich eine Stunde Zeit, mich von den Leuten, die mir wichtig sind, zu verabschieden. Darauf bin ich nicht vorbereitet, schießt es mir durch den Kopf. Eine Stunde reicht doch niemals um Katniss und meiner Mutter zu sagen wie sehr ich sie lieb habe und mich von ihnen zu verabschieden!
Ich versuche mir ein paar Sätze zurechtzulegen, die ich ihnen sagen will, aber es bringt nichts. Eine Stunde ist einfach nicht lang genug.Doch es verläuft sowieso ganz anders, als ich gedacht habe, denn als Katniss hereinkommt und ich mich in ihren Armen verkriechen will, stößt sie mich weg. Mit überraschender Härte in ihrer Stimme sagt sie: „Fang bloß nicht an zu weinen. Am Bahnhof wimmelt es von Kameras, die nur darauf warten, dass du dich gehen lässt. Aber das darfst du nicht zulassen, hörst du! Du musst jetzt stark sein!" Nach diesen Worten, möchte ich eigentlich noch viel mehr weinen, aber Katniss zuliebe unterdrücke ich die Tränen und schaffe es sogar zu nicken. Dann nimmt sie mich in ihren Arm. „Ich wünschte, ich könnte an deiner Stelle in die Arena gehen...", murmelt sie in mein Haar. „Nein, das will ich nicht.", sage ich und meine es auch so. Denn mindestens genauso viel Angst, wie ich davor habe, in die Arena zu gehen, habe ich auch Angst davor Katniss zu verlieren, indem sie an den Hungerspielen teilnehmen muss.
"Meine tapfere kleine Ente", flüstert sie in mein Ohr und daraufhin muss ich lächeln.
Die nächsten Minuten sitzen wir einfach nur da, - ich auf Katniss' Schoß, die Arme um sie gelegt und Katniss hat ihren Kopf auf meine Schultern gelegt und flüstert mir beruhigende Worte ins Ohr - aber schließlich kommt ein Friedenswächter und gibt uns das Zeichen, dass unsere Zeit vorbei ist. Wir umarmen uns noch einmal ganz fest und ich muss Katniss noch schwören, dass ich versuche zu gewinnen. Aber es werden noch 23 andere Tribute mit mir in die Arena gesperrt, unter anderem die Karrieretribute, die ihr Leben lang vorbereitet wurden, die Hungerspiele zu gewinnen...Anschließend kommt meine Mutter zu mir und wider Erwarten weint sie nicht und wirkt ganz gefasst. Vermutlich hat Katniss ihr gesagt, dass sie sich nicht gehen lassen soll und ich bin darüber sehr dankbar, denn wenn meine Mutter anfangen würde zu weinen, müsste ich auch weinen.
Zu meiner Überraschung sitzt sie aber nicht nur da, wie ich es eigentlich erwartet hatte, sondern sie erklärt mir noch einmal mit einer Dringlichkeit in ihrer Stimme, die ich an ihr noch nie gehört habe, wie man bestimmte Verletzungen heilen oder zumindest die Schmerzen lindern kann. Dann meint sie: "Du bist vielleicht verletzlich, aber du weißt über Pflanzen Bescheid und kannst dich mit ihrer Hilfe gesund pflegen. Das verschafft dir schon einmal einen großen Vorteil gegenüber den anderen Tributen". Ich denke darüber nach und es stimmt! Die Karrieretribute, vor denen ich eigentlich am meisten Angst hatte, können vielleicht gut mit einer Waffe umgehen, aber ich bezweifle, dass sie sich kurieren können, wenn sie verletzt sind.
Und als mir das klar wird, kommt auch ein Teil meines Selbstvertrauens zurück!
In Distrikt 12 wurde mir schon oft gesagt, wie nett und hübsch ich bin. Das ist zwar kein Maßstab, aber wenn die Leute im Kapitol mich erst einmal nach ihren Vorstellungen schön gemacht haben und ich sie dazu bringe mich zu mögen, findet sich vielleicht ein Sponsor und damit würde meine Chance zu gewinnen um ein Vielfaches steigen.Ich bin so in meinen Gedanken vertieft, dass ich gar nicht richtig realisiere, wie meiner Mutter auf einmal Tränen über die Wange laufen, aber das Schluchzen, das kurz darauf folgt, holt mich wieder in die Wirklichkeit zurück. "Nicht weinen. Alles ist gut.", versuche ich sie zu beruhigen, obwohl natürlich nichts gut ist. "Durch dich habe ich wenigstens eine kleine Chance zu gewinnen!", probiere ich es weiter und dieser Satz stimmt sogar wirklich, denn ohne sie hätte ich wahrscheinlich niemals meine Begabung zur Ärztin entdeckt und selbst wenn, hätte mir immer noch das Fachwissen, das sie mir beigebracht hat, gefehlt und ohne das hätte ich wahrscheinlich überhaupt keine Chance auch nur den ersten Tag zu überleben.
Aber bevor ich meine Mutter weiter beruhigen kann, kommt wieder der Friedenswächter und ich umarme sie noch ein letztes Mal.Ich atme tief durch. Kommt überhaupt noch jemand um sich von mir zu verabschieden? Wahrscheinlich nicht, denke ich und ich behalte Recht, denn schon kurze Zeit später sind Effie Trinket, mein Partnertribut und ich auf dem Weg zum Bahnhof.
Dort angekommen bin ich sehr froh, dass Katniss mich davon abgehalten hat zu weinen, denn sie hatte Recht. Es wimmelt hier nur so von Reportern mit Kameras, die direkt auf mein Gesicht gerichtet sind. Also stelle ich mich aufrecht hin und versuche so selbstbewusst wie nur möglich auszusehen, während ich zum Zug laufe. Dabei fällt mein Blick auf den Tribut aus Distrikt 12, von dem ich immer noch nicht den Namen weiß. Er hat anscheinend geweint und überraschenderweise versucht er nicht es zu verstecken. Das wundert mich ein bisschen, aber ich denke nicht weiter drüber nach. Schließlich hätte ich mit Sicherheit auch geweint, wenn Katniss mich nicht davon abgehalten hätte.Nur kurze Zeit später sind wir mit 380 Stundenkilometern auf dem Weg ins Kapitol. Effie zeigt mir mein Abteil im Zug, das ich, bis wir morgen im Kapitol ankommen, ganz für mich alleine habe. Mit dem Bad, dem Ankleideraum und einem Bett, ist es größer als unser komplettes Haus in Distrikt 12! Dann meint sie, dass sie mich in einer Stunde zum Abendessen abholt und bis dahin kann ich hier machen, was ich will. Ich kann das Bad benutzen, schlafen oder mir etwas von den vielen schönen Kleidungsstücken in den Schubladen anziehen, überlege ich. Als Erstes stelle ich mich unter die Dusche, denn die gibt es zu Hause nicht, aber zu meiner Überraschung kommt nicht normales, kaltes Wasser aus dem Duschkopf, sondern Wasser, das ganz warm ist. Effie hat zwar gesagt, dass ich mir die Wassertemperatur so einstellen kann, wie ich will, aber da ich Angst habe etwas kaputt zu machen, lasse ich alles so wie es ist und schon nach kurzer Zeit habe ich mich an das warme Wasser von oben gewöhnt und möchte am liebsten nie wieder aus der Dusche hinaus gehen. Nach einer halben Stunde verlasse ich das Bad dann aber doch und ich trockne mich ab und ziehe die Bluse und den Rock von der Ernte noch einmal an. Ich weiß zwar, dass ich alles, was hier in den Schubladen und Schränken ist, anziehen darf, aber in den alten Sachen von Katniss fühle ich mich einfach wohler, so komisch das auch klingt.
Kaum bin ich angezogen, klopft auch schon Effie an der Tür und bringt mich zum Speisewagen. Sie rät uns zwar, als der erste Gang serviert wird, nicht so viel zu essen, da noch mehr kommt, aber ich kann mich nicht beherrschen. Nur wenige Male in meinem Leben war ich wirklich satt und hier gibt es mehr zu essen, als ich mir je erträumen konnte. Ich denke es kann mir niemand übelnehmen, wenn ich mir jetzt den Bauch vollschlage.
„Immerhin habt ihr beide anständige Manieren", meint Effie plötzlich nach dem Hauptgang. „Das Paar von letztem Jahr aß alles mit den Händen, wie die Wilden. Das hat meine Verdauung völlig durcheinandergebracht." Ich versuche mich an sie zu erinnern und sage dann ein wenig empört zu ihr: „Die beiden Tribute von letztem Jahr haben im Saum gelebt. Sie konnten sich bis zur Ernte nicht ein einziges Mal richtig satt essen. Ich denke du hast nicht das Recht ihnen vorzuwerfen, dass sie, als sie das Erste mal genug zu Essen hatten, nicht auf irgendwelche Tischmanieren geachtet haben." Daraufhin ist sie still, aber ich nehme nichts zurück, von dem, was ich gesagt habe.
Nachdem wir fertig gegessen haben, bereue ich aber auf einmal, dass ich so viel auf einmal in mich hineingestopft habe, denn ich habe das Gefühl, mir kommt gleich alles wieder hoch. Dem Jungen aus meinem Distrikt scheint das Essen allerdings auch nicht so gut bekommen zu haben, denn er ist ein bisschen grün im Gesicht. Ich muss ihn später noch unbedingt nach seinem Namen fragen, nehme ich mir vor. Bevor ich allerdings weiter darüber nachdenken kann, wie ich das wohl am Besten anstelle, ohne unhöflich zu wirken, wechseln wir in ein anderes Abteil und schauen uns die Zusammenfassung der Ernten in ganz Panem an. Das ist es! So kann ich den Namen von meinem Partner herausfinden ohne ihn direkt danach zu fragen! Wieso bin ich da nicht früher draufgekommen, das hätte mir das viele Kopfzerbrechen erspart! Aber erst einmal werden die Tribute aus den anderen Distrikten gezogen und obwohl ich wirklich wach bleiben und mir auch die Namen von den anderen merken will, schlafe ich schon nach kurzer Zeit, ich glaube irgendwann zwischen dem zweiten und dem fünften Distrikt, ein.
DU LIEST GERADE
Prim's Spiele
FanfictionPrimrose Everdeen wird für die 74. Hungerspiele ausgelost! Doch anders als im Original kann man sich nicht freiwillig melden, was bedeutet, dass die zwölfjährige Prim in die Arena muss...