Never Forget (#Tardy)

Zweites Märchen

Es waren einmal zwei Brüder, der Ältere war groß und stark und der Jüngere war schmächtiger Gestalt, dafür hatte er aber ein helles Köpfchen und wusste immer einen Rat, wenn der andere ihn brauchte. Die beiden waren stets für einander da und liebten sich, wie Geschwister einander nur lieben konnten. Wurde der Jüngere zur Zielscheibe des Spotts, dann war sein großer Bruder umgehend zur Stelle, um ihn zu verteidigen und vor Unheil zu bewahren. Und wenn der Ältere sich die Haare über eine Aufgabe raufte, die keiner körperlichen, sondern geistigen Stärke bedurfte, konnte er auf die Hilfe seines begnadet schlauen Bruders zählen.

So lebten sie lange Zeit friedlich und einig in die Tage hinein und wuchsen zu stattlichen jungen Männern heran, bis ihre Heimat plötzlich von bösen Mächten angegriffen wurde. Der Ältere versprach, mit seinen Gefährten die Stellung zu halten und die fremden Krieger so lang wie nur möglich zu stoppen, während der Jüngere sich einen Weg überlegen sollte, wie die Gegner überlistet werden konnten, ohne weiter Blut zu vergießen und gute Männer im Kampf fallen zu lassen. Doch egal wie stark sich die Verteidiger gegen die Angreifer stemmten und Zeit schunden, der kluge Bruder kam zu keiner Lösung, wie sehr er auch hin und her überlegte. Es war hoffnungslos, so empfand er.

Dennoch vertröstete er seine Sippe und besonders seinen liebsten Bruder, dass ihm bald noch etwas einfallen würde, teils um die Flammen in ihren Herzen weiterhin anzufachen, teils um sich selbst ein besseres Gewissen zu erlügen. Doch es kam ihm zur rechten Zeit kein rettender Einfall und so entschloss er sich eines Nachts, als die Feinde besonders nahe waren, zu fliehen und wenigstens sein eigenes Leben zu retten. Seinen Bruder weckte er nicht, er wusste, dass er zu treu war, um die anderen im Stich zu lassen. Also verschwand er ganz alleine und überließ den Rest ihrem unausweichlichem Schicksal.

Dem großen Bruder ward das Herz gebrochen, als er am nächsten Tag feststellen musste, was der kleinere getan hatte. Seiner Kampfbereitschaft beraubt ergab er sich und wurde als Gefangener genommen. Man ließ ihn am Leben und erzog ihn als einen der Ihren, während tief in ihm das Feuer der Rache entfachte, um sich an seinem Bruder rächen zu können, der ihn damals so feige verraten hatte!

Und die Moral von der Geschicht:
Trau selbst den eignen Brüdern nicht!
Familienbande - ach so zart -
in Scheiterns Anblick schnell erlischt -
sich alle List rasch offenbart!
Im Krieg gibts Treu' und Liebe nicht!