Die Paranoia

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Die Nacht konnte ich nicht schlafen. Zu groß war meine Furcht vor dem morgigen Tag! Er wusste, wo ich wohnte, und auch, welchen Weg zur Schule ich regelmäßig nahm. Jederzeit konnte er mich nun erhaschen, er brauchte sich nur frühs in der Masse zu verstecken und mich zu packen, wenn niemand genauer hinsah und ihn aufhalten würde. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken. Wenn er mir schon ein Taschenmesser zukommen ließ, auf dem mein Name wie auf einem Todesurteil stand, dann wollte ich mir nicht vorstellen, was er in Echt mit mir vorhatte! Es war das erste Mal, dass ich bereute, so viele Actionfilme zu kennen, in denen Menschen auf brutalste Art und Weise gefoltert und gequält wurden, teilweise bis zu ihrem Tod! Ich wollte aber noch nicht sterben! Ich wollte leben! Ich hatte das Gefühl, mein ganzes Dasein bisher noch nicht einmal richtig gelebt zu haben, genossen zu haben dass ich war und dass ein Herz in meiner Brust schlug, regelmäßig und zuverlässig, viele Jahre bis es zu alt und schwach war, um noch weiter wertvolles Blut durch jeden Teil meines Körpers zu pumpen! Man vergaß viel zu einfach... Mein Tattoo kam mir schmerzlich in den Sinn, never forget! Vielleicht war sogar es ein subtiler Hinweis für mich gewesen, den ich übersehen und vergessen hatte, wie ironisch.

Ich zitterte und drehte mich auf die andere Seite, zum Fenster. Aus Angst hatte ich mich nicht einmal getraut, es wie sonst anzukippen um in der Nacht frische Luft zu bekommen. Was wenn sonst der Fremde wiederkam, um mich zu holen? Bestimmt konnte er mit einem Arm durch den Spalt im Rahmen greifen, um die Flügel ganz zu öffnen und sich selbst in mein Zimmer zu lassen. Wenn er unser Haus gefunden hatte, würde ein Einbruch sicherlich auch ein Klacks für ihn sein. So musste er erst durch die Scheibe und das Geräusch würde hoffentlich sowohl mich, als auch meine Mom aufwecken! Wenn ich heute überhaupt an etwas Schlaf kam... Bisher sah es immer noch nicht danach aus. Zu real wurden die Horrorszenarien in meinem Kopf, zu laut das Geräusch von panischen Schreien und Kettensägen, eisernen Fußfesseln und sadistischem Gelächter.

Meine Hand unter dem Kopfkissen krallte sich instinktiv stärker um den Griff des Taschenmessers. Ohne es hatte ich mich nicht mehr nach Einbruch der Dunkelheit getraut, nochmal ins Bad zu schlüpfen, zu Duschen und Zähne zu putzen, und dann natürlich auch den Weg zurück in mein Zimmer zu huschen. Auf mein Nachtschränkchen hatte ich es nicht legen wollen, da war es im Notfall zu weit weg und außerdem konnte der Kerl es dann im schlimmsten Fall auch gegen mich benutzen! So musste ich nur noch die Klinge herausschnellen lassen und Glück haben, dass meine schwächlichen Versuche von Gegenwehr in der Schwärze der Nacht furchterregend genug wirkten, um meinen Angreifer abzuschrecken. Trotzdem hatte ich weiterhin höllische Angst. Warum ich? Warum hatte ausgerechnet ich in diesen Psychopathen rennen müssen und warum hatte er umgekehrt ausgerechnet mich als Opfer ausgewählt? Woher kannte er meinen Namen? Woher meine Adresse? Ich war mir hundert prozentig sicher gewesen, dass ich ihn nicht auf meinem Heimweg gesehen hatte! Es war gewesen, als ob er sich einfach her teleportiert hatte! Oder...

Ich erschauderte. Oder er kannte mich von irgendwoher! V-vielleicht hatte ich deswegen auch das Gefühl gehabt, ihn schonmal gesehen zu haben! U-und er hatte ja auch ein wenig gebraucht, bis er mich gepackt hatte! Er hatte mich im selben Augenblick erkannt, wie mir auch sein Gesicht aufgefallen war! Nur... Wer war er dann? Ich war mir sicher, dass ich ihn nicht kannte! Woher auch? Aber warum war er mir dann trotzdem kurz so vertraut vorgekommen?

Never forget. Wieder kreuzte es meinen Kopf und ein dumpfes Pochen zog durch meinen Magen, so schmerzhaft, dass ich mich zusammenkrümmte und leise wimmerte. War er auf der Saufparty gewesen, von der ich mein Tattoo hatte? War er letztendlich das, was ich nicht vergessen sollte? Mein schlimmster Alptraum? Hatte ich ihm da irgendetwas angetan, wofür er jetzt Rache wollte? A-aber ich erinnerte mich wirklich nicht mehr daran! Weder wo ich gewesen war, noch mit wem oder wer alles dort mitgefeiert hatte! Oder wem ich komisch gekommen war durch Kommentare oder Taten! Nichts davon existierte mehr auf meiner Festplatte, nichts, nichts, NICHTS! Das würde den Fremden aber vermutlich nur herzlich wenig interessieren, wenn er mich fand. Ich spürte innerlich, dass es bald soweit sein musste. Morgen... Oder übermorgen... Solange, bis mein Verfolger seine ideale Chance bekam und müde wurde, mich weiter zappeln zu lassen... Und es würde sicher schmerzhaft werden...!


"Ardy? Ardy, wach auf!"

Ich schrie, als mich jemand unsanft an den Schultern rüttelte, schlug um mich, flehte und jammerte. Er hatte mich! Er hatte mich und würde mir gleich die Kehle durchschneiden! Als das aber nicht geschah, blinzelte ich vorsichtig und erkannte irgendwann meine Mom über mir gegen das Licht meiner Zimmerlampe. Sie... s-sie...

"Hast du schlecht geschlafen, Ardian? Du weinst ja! Ist alles okay?"

"N-nichts ist okay!", brüllte ich sie an, während ich meine Tränen weg wischte und meine wirbelnden Gedanken langsam wieder zur Ruhe kamen, "Irgendwo da draußen ist ein Mörder und er k-kennt meinen Namen und weiß, wo wir wohnen! Wie soll da bitte alles o-okay sein?!"

Zuerst schreckte Mom zurück und ich bereute fast, sie angeschrien zu haben, dann schien sie aber zu verstehen, was genau ich meinte und sie atmete tief aus. "Ardy, zum letzten Mal, das ist kein Mörder oder Entführer oder was auch immer du denkst! Himmel, du bist kindischer als jeder Fünfjährige! Steh jetzt auf, du hast deinen Wecker verschlafen und kommst noch zu spät zur Schule!"

Mit diesen Worten erhob sie sich von meiner Bettkante und wollte gehen. Ich rief ihr nach: "Warum sollte er mir sonst ein Ta-"

"Ich will von deinem Unsinn nichts mehr hören!", unterbrach sie mich und polterte durch den Flur davon. Irgendwo hörte ich schließlich eine Tür zuschlagen und bebend sank ich zurück in meine Kissen. Meine Atmung war noch immer unregelmäßig, mein Puls viel zu schnell und ich merkte, wie jeder Luftsog in meine Lungen schmerzte, als würde mir jemand den Brustkorb zusammenschnüren.

Meine Augen verschwammen erneut in Tränen. Ich hatte schon wieder im Schlaf geweint. Heute konnte ich aber klar zuordnen, woran das lag. Wenn jemand mit dem Leben bedroht wurde, war es ja wohl logisch, dass man selbst im Traum mit Gefühlsausbrüchen zu kämpfen hatte! Trotzdem kam ich mir dadurch dumm und schwach vor und trotzig rieb ich mir so lange über mein Gesicht, bis auch noch die letzte Spur der salzigen Perlenströme beseitigt war. Dann stand ich leicht schwankend auf. Am liebsten wäre ich den ganzen Tag im Bett geblieben, aber so riskierte ich nur noch mehr Streit mit meiner Mutter.

Beim Frühstück fiel mir vor lauter Müdigkeit und fehlender Konzentration mehrmals der Löffel aus den Fingern und geradewegs klappernd in die Müslischale. Eher nebenbei wischte ich dann die verspritzte Milch mit meinem Pulloverärmel auf und aß lustlos weiter. Ob ich es riskieren sollte, einen anderen Weg einzuschlagen oder einmal tatsächlich das Fahrrad zu benutzen? Oder erst gar nicht zur Schule zu gehen? Was war sicherer? Im Unterricht und auf dem Pausenhof hatte immer jemand ein Auge auf mich und kein Fremder konnte einfach so in die Klassenräume spazieren, wie es ihm gefiel! Doch andererseits konnte er mir auf dem Weg leichter auflauern... Ich wusste es nicht. Ich wusste es einfach nicht! Ein ganzer Tag irgendwo in der Stadt, versteckt in Cafes oder Läden war furchtbar riskant, sollte er erst einmal meine Spur aufnehmen und mir folgen! Also entschied ich mich schweren Herzens doch dazu, zur Schule zu gehen, egal wie müde oder abgelenkt ich war. Da konnte mir der Fremde nichts! Wenigstens für ein paar Stunden am Tag konnte ich meine wachsende Paranoia loswerden! Und nichts wünschte ich mir lieber als das!

Never Forget (#Tardy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt