Kapitel 11

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Ich konnte mich beinahe nicht mehr halten, jetzt würde ich jeden Moment fallen. Ich konnte nicht sehen, wo ich war und als ich meine Augen, die wie zugeklebt schienen, mühsam öffnete, bemerkte ich, dass ich auf einem Pferd saß. Die Panik überkam mich und ich krallte mich mit aller Kraft in der vom Regen genässten Mähne des Pferdes unter mir fest. Immer wieder rutschten meine verkrampften Finger ab. Mit jedem Galoppsprung schien ich ich dem Boden näher zu kommen. Jetzt erst bemerkte ich, dass mein Pferd Paddy war! Ihre Augen waren weit aufgerissen. Heiße Tränen flossen mir über die Wangen und ein schriller Schrei, von dem ich vermutete, dass er von mir kam, tönte durch den tosenden Regen. In diesem Moment verschwand alles unter mir und ich fiel in ein tiefes Loch, bevor ich auf den harten Boden knallte und mir „Smells like Teen Spirit" in den Ohren schrillte.

Ich brauchte einen Moment, um festzustellen, dass ich nicht in einem Nirvana-Konzert gelandet war, sondern mich der Klingelton meines Handys geweckt hatte, das neben mir auf dem Boden lag, der sich als der Grund des schwarzen Lochs herausstellte. Ich wälzte mich im Kampf mit meiner Bettdecke, die mich mehr oder weniger gefesselt hatte und setzte mich schweißgebadet mit dem Rücken an mein Bett. Liv ruft an. Mein Wecker verriet mir, dass es bereits halb neun war. Normalerweise wäre ich schon lange aufgewacht. Es war als hätte mich mein schrecklicher Traum von vorhin gefangen gehalten. „Hey, was gibt's? Du hast mich gerade echt gerettet", scherzte ich noch ziemlich außer Atem, denn wenn meine Freundin mich nicht geweckt hätte würde ich wahrscheinlich immer noch verzweifelt versuchen, mich an Paddys Mähne festzuhalten. „Was denkst du dir eigentlich dabei, dich nicht bei mir zu melden, nachdem was gestern passiert ist?", rief sie so laut ins Handy, dass ich es von meinem Ohr weghalten musste. Sie klang ehrlich besorgt und etwas enttäuscht, was ich auch verstehen konnte, denn natürlich hatte auch sie mitbekommen, dass ich mit Damian gesprochen hatte. „Lass uns im Café treffen, dann erzähle ich dir alles." Letzteres stieß ich mit einem Seufzer hervor. Gleich nachdem ich das Gespräch beendet hatte zog ich mir etwas Bequemes an und machte mich auf den Weg in den Ort. Aki trabte neben mir auf den vom Tau genässten Feldwegen her und der Weg kam mir heute irgendwie länger vor. Ich legte mir bereits die Worte zurecht, wie ich die ganze Geschichte von gestern nochmal erzählen sollte und versuchte den Grund, wieso ich mit Damian und nicht mit Liv gesprochen hatte, in Worte zu fassen. Was war der Grund dafür? Ich wusste es doch eigentlich selbst nicht. Oder vielleicht doch. In letzter Zeit war zwischen Damian und mir etwas entstanden. Es hatte mich zwar selbst bei ihm eine riesen Überwindung gekostet, über meine Angst zu sprechen, doch letztendlich hatte ich das Gefühl, dass ich mich ihm anvertrauen konnte. Dass er mich verstehen würde. Nicht, dass ich glaubte meine beste Freundin würde mich nicht verstehen, aber ... ach, ich wusste es doch auch nicht.

„...und deswegen bin ich weggerannt", schloss ich schließlich nach einigen qualvollen Minuten in denen ich geschildert hatte, was in mir vorging. Liv hatte mir mit ernster Miene zugehört. „Ich habe selber erst durch diesen Vorfall gemerkt, was mich wirklich vom Reiten abhält und war damit komplett überfordert. „Ich meine, ich, die schon als Kind durch die Wälder gestreift ist und sich flüchtenden Pferden in den Weg gestellt hat, und dann passiert sowas!" Am Ende des letzten Satzes begann ich unwillkürlich zu schluchzen, fing mich aber gleich wieder, als mich Liv tröstend umarmte, so gut das über den Tisch zwischen uns eben ging. Es konnte doch nicht sein, dass ich immer gleich zu heulen begann! War schon schlimm genug, dass ich mich jetzt vor Pferden fürchtete, ich Feigling, und dann heulte ich auch noch die ganze Zeit herum. Meine Freundin ließ mich wieder los und bestellte noch zwei heiße Schokoladen, das Lieblingsgetränk von uns beiden. Sie wusste, dass es anstrengend genug für mich gewesen war, jetzt erneut zu erzählen was passiert war und stellte keine weiteren Fragen, wofür ich ihr sehr dankbar war. Eine Weile saßen wir schweigend da und rührten in unseren Tassen. Dann blickte sie hoch: „Ich muss dir auch etwas erzählen." Sie klang plötzlich gar nicht mehr, wie ich es von ihr gewohnt war. Ich sah sie fragend an, und wartete, bis sie fortfuhr. „Mein Vater hat ein Jobangebot bekommen, das er nicht ausschlagen konnte." Sie holte kurz Luft. „Es ist ziemlich weit entfernt, ungefähr eine Zehn-Stunden-Reise, und er besteht darauf, dass ich mitkomme." Es dauerte kurz, bis die Bedeutung dieser Nachricht zu mir durchsickerte. Liv kannte ihre Mutter nicht und hatte hier keine Verwandten, bei denen sie in der Zwischenzeit wohnen könnte. Diese Neuigkeit war schockierend, aber nichts Neues. So eine Situation war schon einmal vorgekommen, etwa sechs Jahre zuvor. Damals hatten wir uns täglich Briefe geschrieben und meine Eltern mussten mich jeden Nachmittag zur Post fahren. Ich musste nichts sagen, Liv wusste, dass ich mich auskannte. „In zwei Wochen reisen wir ab." „Wie lange wird es dauern?" Nun musste ich doch eine Träne zurückhalten, die versuchte, sich ihren Weg zu bahnen. „Wenn alles gut geht, wird es dieses Mal nur bis zum Ende der Sommerferien dauern." Das war nicht allzu lange, und dennoch war es schlimm genug. Ein Sommer ohne meine beste Freundin. Als ob in den letzten Tagen nicht genug passiert wäre. Unser restliches Treffen verlief still, keiner von uns war in der Stimmung ein Gespräch zu beginnen. „Was wäre, wenn wir deinen Vater überreden könnten, dass du in der Zeit bei uns wohnen kannst?" „Glaub mir, ich habe ihm auch vorgeschlagen, dass ich dich fragen könnte. Aber du kennst ihn ja. Er lässt sich nicht gerne in seine Pläne reinreden." Da hatte sie recht. Livs Vater war sehr nett und sympathisch, aber in solchen Situationen blieb er hart. „Hey, aber bevor ich abreise müssen wir unbedingt noch zu diesem See, den Damian uns zeigen wollte!", versuchte sie die Stimmung etwas aufzuheitern. Trotz laufend schlechter Nachrichten konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen, wenn ich an diesen schönen Tag dachte, den ich dort mit Damian verbracht hatte. Den Streit am Schluss blendete ich natürlich geschickt aus. Liv schien meine verbesserte Laune zu bemerken. „Wieso eigentlich nicht gleich heute?", schlug sie vor. „Wir könnten Damian fragen, ob er Lust hat mitzukommen. „Nichts lieber als das", gab ich zur Antwort und meine Freundin zückte bereits ihr Handy. In weniger als zehn Sekunden hatte sie ein Treffen vereinbart und wir machten uns schon kurz darauf mit unseren Sachen auf den Weg zur Bushaltestelle, wo mich Damian letztes Mal abgeholt hatte.

Zwei Herzen, eine SeeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt