Kapitel Neun

859 45 3
                                    

                                                                         

                                                                           ~~ Neun ~~                           

Ich will die Augen nicht aufmachen. Meine Lider sind dick und geschwollen. Ich bin immer noch so müde. Ich will Schlafen. Ich will die Augen nicht aufmachen. Ich will schlafen und meine Ruhe haben. Aber irgendwer schlug immer leicht mit den Fingern auf meine Wange und ruft: "Jessica? Jessica, kannst du mich hören?"
Ich reagiere nicht. Ich wende den Kopf ab. Ich will die Arme vor meine Augen halten, da das Licht so grell ist, aber es funktioniert nicht. Denn meine Arme sind festgebunden. So kommt es mir jedenfalls vor. "Jessica, kannst du mich hören? Wenn ja, mach die Augen auf, ja? Oder sag etwas!"
Ich kenne diese unbekannte, männliche Stimme nicht. Außerdem weiß ich nicht, wo ich bin. Es riecht hier anderes. "Gehen Sie weg!", murmle ich. "Ich will schlafen." Mein Mund ist wie ausgetrocknet. Die Lippen geschwollen und rissig. "Oh, schön. Du hast mich gehört." Die Stimme des Mannes wird richtig munter. Ich spüre eine Hand auf meiner Stirn. Eine raue, kühle Hand. "Du musst keine Angst mehr haben, Jessica", sagt die Stimme. "Wir kümmern uns jetzt um dich. Wir passen auf dich auf. Du brauchst jetzt keine Angst mehr haben." Ich halte es nicht mehr aus. Mit großer Mühe öffne ich die Augen. Ich will sehen, wer diesen Bullshit sagt. "Ich habe keine Angst.", murmle ich.
Ich sehe ein Gesicht. Ein Mann mit harten Gesichtszügen. Die Haare sind nicht vorhanden. Seine Glatze glänzt. Der Mann lächelt. Die Augen nicht. Die Augen blicken mich aufmerksam an. Forschend. Ich lasse meinen Blick von dem Mann weiterwandern. Ich bin in einem fremden Zimmer. Die Wände sind grün gestrichen. Ein Schrank an der Wand, mit zwei Türen. Daneben ein Waschbecken. An der Wand gegenüber hängt ein Bild. Eine Landschaft.
Wie kitschig, denke ich. Dann wandern meine Augen weiter zum Fenster. Geschlossen. Ich sehe einen Baum. Und ein Gitter. Ein schwarzes Eisengitter. Ich schließe wieder die Augen. "Wo bin ich?", frage ich.
"Im Krankenhaus, Schätzchen. Du bist im Johanniter Krankenhaus. Auf der Station von Professor Steiner. Es ist die beste Station im ganzen Haus. Alle sind gerne hier. Die Ärzte, die Schwestern, die Pfleger. Alle möchten dir helfen." Die Hand legt er wieder auf meine Stirn. "Wie fühlst du dich?" "Müde. Ich möchte schlafen." "Du schläfst jetzt genau vierundzwanzig Stunden. Ich habe hier eine Schnabeltasse, Schätzchen. Mit einer sehr heißen, leckeren Suppe." "Ich will nichts. Ich esse kein Fleisch", murmle ich. Er zittert mit den Nasenflügel. "Egal, du musst was essen, damit du zu Kräften kommst." "Was wenn ich nicht zu Kräften kommen will?" Ich bin im Krankenhaus aber warum? "Ich bin hier der Oberarzt", sagt der Mann. "Ich heiße Hannes Gößel.", er streicht mir über die Wange. "Du wirst sehen, alles wird gut." Ich will die Hand wegschieben aber wieder kann ich den Arm nicht bewegen. "Was ist mit meiner Hand?", frage ich. "Die haben wir eingebunden, Herzchen", sagt er. "Die muss jetzt mal zur Ruhe kommen." "Wieso zur Ruhe?" "Du kannst dich nicht mehr erinnern?", fragt der Arzt.
Ich sage nichts. Wir hören tiefe Stimmen, die vom Flur kommen, das Scheppern von Geschirr. "Essenszeit.", sagt er. "Hast du Hunger?" "Nein", murmle ich erneut. "Nachher schicke ich dir jemanden, der dir Trinken bringt." Der Arzt erhebt sich. Er geht zur Tür. "Übrigens, dein Arm ist sehr fest eingebunden. Es bringt sich nicht, es zu versuchen. Wir haben da unsere Tricks." Ich öffne die Augen. Ich sehe ihn an. Ein Mann. Vielleicht vierzig Jahre. "Ich bin müde", stelle ich fest.
Er lächelt. Er schließt die Tür, nachdem er draußen ist. Ich drehe den Kopf zu anderen Seite. Ich betrachte das Fenster. Die Gitter. Alle zehn Zentimeter eine Stange.
"Wo bin ich hier?", flüstere ich.
"Diese Stadion", sagt der freundliche, sanfte Mann, der an meinem Bett steht, "ist die Jugendpsychiatrie. Davon schon mal gehört?" "War schon mal dort." Für einen kurzen Moment verrutscht sein Lächeln. "Dann weißt du ja, dass das ein wundervoller Ort ist für Personen die sich sammeln müssen. So wie du.", er kommt an mein Kopfende. Ich habe das Kopfteil aufgestellt, damit ich aufrecht sitzen kann. "Tut der Arm noch weh?", er hebt meinen Arm. Ich schüttele den Kopf. Der Verband ist dick und schwer. "Gut. Dann lass uns mal sehen, wie es darunter aussieht. Vielleicht kann das Ding ganz weg."
Ich lehne mich zurück. Ich strecke die Hand aus und lasse die Schwester meinen Verband abnehmen. Sie wickelt die Binden ab. Dieses mal am linken Handgelenk. Die Schwester, die sich als Tina herausstellt, wickelt weiter. Als ich hinsehe, sehe ich Blut. Blut verkrustete Binden. Bei jeder Drehung reißt die Wunde wieder auf. "Nass", sagt der Arzt. "Noch keine richtige Narbenbildung", stellte Tina fest. Ich sehe nicht mehr hin, ich sehe zum vergitterten Fenster. "Da schau!", sagt der Chefarzt. "So schaut das jetzt aus. Das war dein Werk." Alles geschwollen. Alles verkrustet. Zickzack Schnitte am Handgelenk. Blau, gelb, kein schöner Anblick. "Warum tut der Mensch so etwas?", fragt er wieder. "Die Narbe wird nie verschwinden. Eine dünne rote Linie wird immer bleiben. Wir sind keine Zauberer", stellt er fest. "Ich weiß, ich habe schon so eine." "Du wirst mir nicht sagen, warum du das gemacht hast oder?", der sympathische Professor lächelt leicht. "Nein", antworte ich knapp. "Und wie oft hast du das schon gemacht?" "Was habe ich gemacht?" "Versucht dich umzubringen?", er sieht auf mein rechtes Handgelenk, wo die ältere Narbe ist. Dann blättert er in seiner Akte. Unruhig rutsche ich auf meinem Stuhl. Wir haben das Gespräch in sein gemütlich eingerichtetes Büro verlegt. Mit der Begründung, dass es sich hier besser reden lässt. "Schauen sie doch nach", sage ich mürrisch. "Habe ich ja schon, nur möchte ich es auch von dir hören.", er beobachtet mich aufmerksam. "Dreimal", flüstere ich. "Oh, dann stimmt da etwas nicht. In der Akte steht nur zweimal.", er lächelt. "Ja, nur.", ich sehe in seine warmen blauen Augen. Sie sind umrandet von Lachfalten und buschigen Augenbrauen. Ich halte mich an seinen Augen fest. Sowie ich es immer bei Thomas oder Stefan gemacht habe. "Und wie?", bohrt er nach. Ich seufze und hole tief Luft. "Das erste Mal mit 15. Ich stand an einer Brücke und da waren diese Gedanken. Und dann rollte der Zug an. Aber bevor ich springen konnte, wurde ich entdeckt und bin dann weggelaufen." "Und die anderen zwei Male?" "Das war vor einem Jahr." "Ich kann mich noch erinnern, weißt du?" "Sie haben mich auch damals schon behandelt?", frage ich.
"Ja aber nur einmal. Als Vertretung", lässt er mich wissen. "Und warum das?", er deutete auf meinen verbundenen Arm. Der Verband muss noch dran bleiben, ließen sie mich wissen, da es noch kein richtiges Narbengewebe gibt. Aber wenn ich Glück habe, kann er in drei, vier Tagen runter. "Das war ein Unfall." "Unfall?", fragt er ungläubig. "Ja, Unfall." "Aber in deiner Akte stand, dass du mit offenen Pulsadern im Klo deiner Schule gefunden wurdest. Von zwei Lehrern. Männlichen Lehrern. Was haben männliche Lehrer bitte im Frauen Klo zu suchen?", er sieht mich mit gerunzelter Stirn an. Ich mag seinen offene und direkte Art. "Lange Geschichte", winke ich ab. "Wir haben alle Zeit der Welt. Ich kann alle restlichen Termine absagen." "Sie dürfen aber nichts sagen?", frage ich.
"Ärztliche Schweigepflicht plus mein Versprechen.", er hält mir seinen kleinen Finger hin. Ich lache und verschränke meinen kleinen Finger mit seinem. "Also?" Und dann rede ich. Sage und schreibe zwei Stunden lang. Professor Steiner lauscht, fragt manchmal etwas nach und schreib nichts mit. Ich bin zwar schon älter aber mein Gehirn funktioniert noch, sagt er als ich ihn frage. Nachdem ich erzählt habe, sagt er etwas was mich Tage danach noch zum Grübeln bringt. "Die zwei Herrschaften sind nichts für dich, Jessica. Beide bringen dich zum Verzweifeln und wenn beide dich wirklich Lieben würden, hätten beide das niemals so weit kommen lassen. Du brauchst deine Ruhe und deine Freiheit. In den nächsten vier Wochen, die du hier bist, hast du genug Zeit zum Nachdenken und hast deine Ruhe. Und danach schauen wir beide wie wir weiter machen, ja?"
Es ist schon eine Woche hier vergangen und langsam gewöhne ich mich daran. Den Verband habe ich abgenommen bekommen und ich finde mich mit der Narbe wie auch mit dem Tagesablauf und den Leuten hier ab.
Um acht Uhr aufstehen, 8:30 ist das Frühstück, dann kann man bis zehn Uhr machen was man will, um 10 habe ich meine Besprechung mit dem Professor, dann ist Mittagessen und bis 14 Uhr Zimmerruhe. Danach habe ich je nachdem entweder Gruppensitzung, Therapie oder einen freien Nachmittag. Nach dem Abendessen um 19 Uhr kann man wieder das machen was man will und um spätestens 22 Uhr ist Zimmerpflicht. Ungelogen, die Besprechungen mit dem Professor sind ein kleines Highlight hier. Herr Steiner gestaltet seine Besprechungen immer anderes. Einmal sind wir im Krankenhaus Garten, einmal spazierten wir durch die Gänge des Krankenhauses und einmal waren wir im Krankenhaus Café. "Jessica, bitte zieh dich um. Der Professor wird mit dir das Krankenhaus verlassen.", lässt mich Tina wissen. "Kann ich nicht so gehen?", frage ich und blicke an mir runter. Jogginghose, Shirt und Schuhe. "Wie du willst aber deine Eltern haben Klamotten gebracht und dein ganzes anderes Zeug." Ich inspiziere das Zeug und finde darin mein Make Up Täschchen, Parfüm, Deo und das ganze Zeugs und der Rasiere ist natürlich gegen Enthaarungscreme eingetauscht worden. Ich ziehe mir einen zerfetzte Jeans an. Ein schwarzen T-Shirt mit dem Aufdruck That's Bullshit Darlin' und schwarze Schuhe. Ich binde meine Haare zu einem hohen Pferdeschwanz. Ich trage Mascara auf und mache einen Lidstrich, putze mir die Zähne und werfe mir eine schwarze Weste darüber. Auf den Weg zu dem Professor grübel ich darüber nach, wo wir hingehen könnten und wer uns noch begleiten würde. Wahrscheinlich irgendein Pfleger. Der Professor wartet schon auf mich. Er hat eine normale Jeans an und ein Sakko an. Unter dem Sakko trägt er ein graues Hemd. "Bereit?", fragt er. Ich nicke lächelnd. Wir verlassen das Krankenhaus und treten in das Grüne.
"Ich habe den Hinterausgang gewählt. Ich glaube zu wissen, dass zu viel Menschen nicht gut für dich sind.", er hält mir die Gartentür auf und öffnet nebenbei mit dem automatischen Schlüssel das Auto. Wir steigen ein und er fährt los. „Wohin geht es?“, frage ich. „Überraschung.“, sagte er knapp. „Warum machen Sie das?“ „Ich bin daran interessiert dir als dein Arzt zu helfen.“, er lächelte. „Und machen Sie das bei jedem Patienten?“ „Nein.“ „Warum dann bei mir?“ „Wenn du es wirklich wissen willst, okay. Weißt du, als ich in deinem Alter war, war ich froh darüber Leben zu können. Und du hingegen bist 18 und hasst das Leben und hast drei Suizidversuche hinter dir. Ich möchte dir zeigen, dass das Leben schön sein kann. Ich möchte dich in meiner Klinik nicht nochmal sehen, verstehst du?“, er sieht mich kurz an und blickt dann wieder auf die Straße. „Also geben Sie mir nach den vier Wochen Hausverbot?“, lache ich. „Ja so was in der Art.“, er stimmt in das Lachen ein.
Nachdem wir eine halbe Stunde gefahren sind, kommen wir vor der Sporthalle meiner Schule an. „Da geh ich nicht rein.“, ich bleibe sitzen.„Doch, du gehst da mit mir rein.“„ Nein.“ „Warum den nicht?“Ich will fast sagen, dass da Thomas oder Denise drinnen sein können aber da spricht es der Arzt schon aus. „Sie werden schon nicht da sein und wenn sie doch da sind bin ja ich da. Ich werde dir helfen.“ "Was ist mit ihren Menschenmassen? Ich dachte, die sind nicht gut für mich?" "Das ist etwas anderes, Jessica. Das hier, ist ein Teil deiner Therapie.", er zeigt auf die Turnhalle. „Na gut.“, ich steige aus. „Aber was ist da heute?“ „Volleyball und Fußballturnier.“ „Achso weiß ich schon“, ich gehe durch die Tür und sofort schlägt mir der Geruch von Schweiß in die Nase. Ich verziehe das Gesicht. „Buh, das stinkt.“, stellt jetzt auch der Professor fest. Wir suchen auf der Tribüne einen Platz und werden dann auch in der ersten Reihe fündig. Nach und nach wird es dann sogar lustig, da der Arzt neben mir immer idiotische Sprüche raus haut und das sehr laut. Er bringt es sogar so weit, dass er ermahnt wird.„Hunger?“, erkundigt er sich. „Ja schon.“
„Lass uns dir einen fleischlosen Hotdog holen und mir einen mit Fleisch.“, lacht er erneut. Der weter Herr ist stets gut gelaunt. Lachend gehen wir zum Buffet und holen uns was zu essen. Mir bleibt fast mein Veggi- Burger im Hals als ich Denise sehe. „Gehen wir.“, ich fasse den Doc an der Hand und ziehe ihn weg. „Was?“, fragt er und sieht in die Richtung in die ich sehe. „Das ist Denise?“ Ich nicke und sehe wieder in ihre Richtung und genau in dem Moment sieht auch sie her. „Scheiße.“, fluche ich. Denise kommt näher. Ich will nicht mit ihr reden! "Bleib ruhig!", mahnt er und streicht über meinen Arm. Er deutet auf die Narbe die unter der Wste versteckt ist. "Das ist dein Geheimnis. Keiner muss das wissen, okay?" „Jessica...“, höre ich die bekannte Stimme von Denise. „Hi.“, erwidere ich kurz. „Wie... W.. Wie geht es dir?“, fragt sie. „Gut.“, sage ich knapp und sehe den Arzt an.
„Ich bin ihr behandelnder Arzt. Doktor Steiner.“, er reicht ihr die Hand und ich muss Lachen. Er sah dabei so ernst aus. Und einschüchternd. Wir reden noch kurz über mich bis es dem Arzt reicht. „Wir müssen.“, sagte er nach ein oder zwei Minuten „Gespräch“. Als wir wieder im Krankenhaus sind, umarme ich ihn spontan und bedanke mich für den schönen Tag. Ich mache mich Bett fertig und gehe das erste Mal schlafen ohne mich in den Schlaf weinen zu müssen.

Die Tiefen unserer HerzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt