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Seungmin

[Mai 2008]

Gedankenverloren starrte Seungmin aus dem Fenster auf die dichten Häuserreihen getaucht in ein orangenes Licht, das den Sonnenuntergang ankündigte. Automatisch folgten seine Augen einem kleinen Vögelchen, welches auf die Fensterbank eines Wohnhauses zuflog und schließlich perfekt auf dieser landete.

"Seungmin."

Der Achtjährige schaute auf. Der mahnende Gesichtsaudruck der Frau Doktor gegenüber von ihm schüchterten ihn ein, sodass er den Blick zunächst wieder auf die Tischplatte aus dunklem Holz senkte. Als er einen schnellen Seitenblick aus dem Fenster wagte, bemerkte er, dass der Vogel verschwunden war.

"Komm schon, lies bitte weiter", bat seine Mutter ihn sanft und rutschte auf dem Stuhl neben ihrem Sohn ein Stückchen nach vorne.

Ertappt sah Seungmin auf das Blatt Papier vor seiner Nase und versuchte die Stelle zu finden, an der vor ein paar Sekunden abgebrochen hatte. Seine Augen flogen mehrmals über den gedruckten Text, doch so sehr er sich auch bemühte, er wusste nirgendwo anzuknüpfen. Er erinnerte sich nicht einmal mehr, wovon der Text überhaupt handelte, obwohl er ihn bis vor einigen Momenten noch laut vorgelesen hatte.

Schließlich tippte seine Mutter auf den Anfang eines Satzes, woraufhin der Zweitklässer zu lesen begann:

"D... Die
So...ne... Sonne...
sch... e... schent..."

"Scheint", verbesserte die Ärztin.

"scheint...
scho... schon...
b... ben..."

"Den."

"den...
g... gan...z... ganze...n...
Ta... Tag-"

Plötzlich und ohne anzuklopfen öffnete ein fremder Mann die Tür hinter der Frau Doktor. Reflexartig schaute Seungmin wieder auf und beobachtete, wie der Mann, ohne sie alle auch nur anzusehen, durch den Raum schritt und in der Tür auf der anderen Seite wieder verschwand. Erst als das Geräusch der zufallenden Tür verklungen war, drehte sein Kopf sich wieder zum Blatt Papier. Erneut hatte er die Stelle verloren, bis ihm wieder von seiner Mutter geholfen wurde.

"un...d
bie..."

"Die."

"die Ki...Ki...n...
Kin...dä...Kindär..."

"Kinder heißt es."

"Kinder s...p...
S...p...ie...len... spie...l...
Spie...len..."

"Das spricht man 'schpielen' aus."

Der kleine Junge schluckte. Er hasste es zu lesen, für ihn war es eine der anstrengendsten, wenn nicht sogar sinnlosesten Aufgaben, die man ihm stellen konnte. Am Ende hatte er meist nämlich sowieso schon längst vergessen, wie der Text angefangen hatte und was darin überhaupt stand.

Lesen war für ihn wie das Entschlüsseln einer hochkomplexen Nachricht: Jeder Buchstabe muss einzelnd identifiziert und mit den anderen Buchstaben daneben zu einem Wort zusammenfügt werden. Es war so kompliziert und dauerte immer eine gefühlte Ewigkeit. Dabei hatte Seungmin sich schon lange gefragt, wie die anderen Kinder in seiner Klasse es ständig schafften, diesen Code so viel schneller als er zu knacken, obwohl er sich doch solch eine Mühe gab.

"Seungmin", erneut sprach ihn die Frau Doktor mit ermahnendem Unterton an. "Konzentrier dich bitte."

Seine Mutter zeigte wieder auf das zuletzt gesagte Wort:
"spielen...
D...dr...dra...u..
Dra...u... Dr...au..."

Als er bei dem Wort "draußen" nicht weiter kam, weil er sich nicht daran erinnern konnte, was "ß" für ein Buchstabe war, verstummte er und suchte angestrengt in seinem Kopf nach einer Antwort. Seungmin merkte nicht, wie seine Aufmerksamkeit sich währenddessen langsam immer mehr und mehr den Geräuschen der vorbeifahrenden Autos hingab und sein eigentliches Vorhaben vergessen wurde.

The Kids Of Olympus | Stray KidsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt