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Reed steuerte den schwarzen Wrangler auf seine Einfahrt, erkannte bereits die Gestalt seines Bruder, welcher wartend auf einer Stufe vor seiner Haustür saß. Jayson erhob sich, als er seinen Bruder heran nahen sah, klopfte sich den Dreck von der Hose.
"Was tust du hier?",fragte Reed und steckte den Schlüssel ins Schloss. Beide Männer betraten das Haus, standen sofort in der Küche, in dessen Raum sich ebenfalls das Wohnzimmer mit Couch Tisch und Fernseher befand.
"Begrüßt du so deinen Bruder?",bemerkte Jayson schmunzelnd und klopfte Reed spielerisch auf die Schulter, ehe er sich dem Kühlschrank zu wandte. Reed lehnte sich mit verschrenkten Armen an seine Kücheninsel, während er seinen Bruder beäugte.
"Jay, was willst du hier? Du kommst mich doch nie mitten in der Nacht besuchen!"
"Also erstens...",fing er an und drehte sich wieder Reed zu. Zwischen seinen Finger hielt er eine Bratwurst, an der er hungrig abbiss. Der Polizist rollte mit den Augen. "Ist es noch nicht einmal elf und zweitens, habe ich einen sehr guten Grund, wieso ich hier bin!"
Sein Bruder war ein sehr aufdringlicher Mann. Egal wo er war, er fühlte sich immer wie zu Hause, von seinen Manieren ganz zu schweigen. Nicht allzu selten kochte er wegen ihm vor Wut.
"Da bin ich aber mal gespannt...",meinte Reed monoton, veharrte in seiner abwehrenden Position. Jaysons Gesichtsausruck wurde plötzlich toternst und er mussterte seinen Bruder eindringlich. "Das wird dir nicht gefallen..."
Reed sah seinen Bruder prüfend an. Das der Mann plötzlich schrecklich ernst wurde, gefiel im garnicht. Er kannte seinen Bruder nur als Witzfigur, als einen Erwachsenen, der sich dennoch ab und zu dazu verleiten ließ, sich wie ein pubertärer Jungendlicher zu benehmen. Vielleicht lag es daran, dass er gerade einmal 27 war und kein fünfzigjähriger Mann, der sich gemütlich in sein Sofa zurück lehnte und den Tag entspannt ausklingen ließ.
Jayson zögerte seine Antwort preis zu geben, schluckte das letzte Stück von seinem Essen herunter, ehe er sich die Hände wusch.
"Jay...",drängte Reed ernst, als dieser immer noch keine Anstalten machte zu reden. Er war es leid, immer auf die Folter gespannt zu werden. Es war wie mit diesen Menschen die Anfing mit 'Hey, weißt du was?' und dann ein enttäuschendes 'Egal. Erzähle ich dir später' oder 'Ist nicht so wichtig' von sich gaben. Reed hasste diese Art von Menschen, die sich für wichtig hielten, sich in den Mittelpunkt rückten um interessant auf andere zu wirken.
"Ich halte es für besser, wenn ich es dir erzähle... Mum und Dad waren dagegen, aber-"
"Jason! Was ist es, was du mir sagen möchtest?" Er unterbrach seinen Bruder, hatte keine Zeit zu verschwenden. Reed war noch nie ein geduldiger Mann gewesen.
Jayson stieß hörbar die Luft aus. Die nächsten Worte schien er gut zu wählen, doch sie rissen Reed dennoch fast den Boden unter den Füßen weg.
"Angelica ist vorzeitig aus der Haft entlassen worden!"
Immer wieder hallte der Name durch seinen Kopf, drängte ihn beinahe an den Wahnsinn.
Die Finger des Mannes klammerten sich haltsuchend, an die Kante der Kücheninsel. Ihm war plötzlich schrecklich schwindelig. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und er wischte sich mit den Handrücken das kalte Nass von seiner heißen Haut. Das konnte unmöglich ernstgemeint sein.
"Sie hatte eine positive Sozialprognose. Es heißt, sie habe sich vorbildlich gegenüber den Justizvollzugsbeamten und ihren Mitgefangenen verhalten und es bestünde zudem keine Gefahr, dass sie Rückfällig werden würde..."
"Das ist lächerlich!",platzte es Reed heraus. Diese Frau konnte unmöglich den Anschein erwecken, eine sozialkompatible Frau zu sein. Doch nicht dieses Biest!
"Ich weiß. Ich habe es ja auch nicht verstanden!",meinte Jayson aufgebracht. Beruhigend klopfte er seinem älteren Bruder auf die Schulter. "Sei einfach vorsichtig okay? Bei dieser Hexe weiß man nie, was sie als nächstes vorhat, also gib mir bescheid, wenn du das Gefühl hast, dass sie dich wieder verfolgt..."
Von Verfolgung konnte man gewiss nicht sprechen. Reed empfand es eher als hartnäckiges Nachstellen mit Drohungen und Gewalt gespicktes Stalking. Doch er wollte nicht daran denken. Er hatte bei den Anrufen geahnt, das die Frau ihn wieder belästigte, doch er wollte es weiß Gott nicht wahrhaben. Immerhin hätte sie noch drei Monate in Haft bleiben müssen und Reed hatte sehnlichst gehofft, dass er sich mit seinem Gefühl irrte. Anscheinend hatte sich seine schlimmste Vorstellung bewahrheitet. Reed hielt es für besser erst einmal zu schweigen, was die Anrufe anging. Unmöglich wollte er seine Familie erneut in die Strapazen hinein ziehen.
"Hey, denk nicht so viel darüber nach okay? Wie geht es dir eigentlich? Du sahst echt beschissen aus, als ich dich in diesem Krankenbett habe liegen sehen!"
Der Mann war froh über den Themenwechsel. Er wollte Angelica einfach nur hinter sich lassen.
Reed seufzte, ließ seine Anspannung ein wenig abfallen und sah in die freudigen braunen Augen seines Bruders auf. Jayson schmunzelte.
"Danke. Dieses Kompliment konnte ich jetzt echt gebrauchen Jay!" Reed schmunzelte ebenfalls über seine direkten Worte. "Aber mir geht es gut..."
"Du warst bewusstlos! Wie erklärst du dir das?" Jayson klang wieder ein wenig ernster. "Man wird nicht einfach bewusstlos, weil man dreißig Minuten in der Kälte rumhockt..."
Er hatte recht, aber das wollte sich Reed nicht eingestehen. Selbst konnte er sich nicht erklären, wieso er bewusstlos wurde. Vielleicht war er einfach müde gewesen, hatte Stress und zu wenig gegessen.
"Ich habe in letzter Zeit öfter mal Schwindelanfälle. Das muss an den ganzen Stress in letzter Zeit liegen, immerhin habe ich kaum freie Tage gehabt." Seine Ausreden waren noch nie gut gewesen, reichten jedoch meistens aus, den Gegenüber zufrieden zu stellen. Bei seinem Bruder schien dies nicht zu funktionieren. Dieser legte einen besorgten Gesichtsausdruck auf.
"Willst du, dass ich dich mal durchchecke?" Das hatte Reed gerade noch gefehlt. Die Hilfe seines Bruders. Dafür war er wahrlich viel zu stolz. Unterstützung kam ihm noch nie gelegen, denn er regelte lieber selbst seine Probleme.
Die stechenden Augen von Jayson brachten ihn das Gefühl von Unbehagen auf. Schnell schüttelte er dieses ab.
"Die haben mich im Krankenhaus doch schon untersucht. Ich denke nicht, dass es irgendetwas ernstes ist. Jedem geht es mal beschissen!"
Er ist Arzt, er ist dein Bruder, besann sich Reed immer wieder.
Jayson hingegen zuckte bloß mit den Achseln. "Anscheinend nicht ausreichend genug, aber du weißt ja, dass du immer zu mir kommen kannst." Der Jüngere wandte sich von seinem Bruder ab, ließ Reed alleine in der Küche stehen. Er selbst schüttelte verwerfend den Kopf und schmiss sich auf das Sofa. Er wusste, dass sein Bruder vorhatte, über Nacht bei ihm zu bleiben, hielt ihn nicht davon ab und ließ den ganzen Tag noch einmal Revue passieren. Heute war definitiv zu viel passiert. Angelica war zurück, er hatte Colton wieder einmal an sich heran gelassen und lief damit Gefahr, das dieser mehr von ihm wollte und hatte herausgefunden das sein Findling noch minderjährig und zudem blind war. Augenblicklich hatte er wieder das Bild von den Jungen in seinem Kopf. Diese leblosen Augen, die verängstigt und gleichzeitig leer wirkten, hatten sich in Reeds Verstand gebrannt. Er hoffte, er könne mehr über ihn in Erfahrung bringen.

Blind Boy I mxmWo Geschichten leben. Entdecke jetzt