Drei Tage. Drei Tage war es nun schon her, seitdem Reed den Jungen aus dem Wald gerettet hatte. Seitdem hörte er nichts mehr von ihm. Er müsse sich erst einmal erhohlen. Erfrierungen zweiten Grades hatten sie gesagt, an Händen und Füßen. Zudem schwebte er die ersten Stunden in Lebensgefahr, wie sie dem Polizisten erzählt hatten, war deshalb auf der Intensiv. Reed selbst verbrachte lediglich eine Nacht in dem Krankenhaus zur Kontrolle. Immerhin war er bewusstlos geworden, nachdem der Hubschrauber seine Rettungsaktion startete.
Wenigstens geht es ihm gut...
Umso weniger erfreute es den Polizisten, dass sein Vorgesetzter Parker ihn beurlaubte. Es sei zu seiner eigenen Sicherheit, meinte dieser. Dabei war der Polizist drauf und dran mit der Arbeit fort zu fahren. Er musste doch herausfinden, was mit dem Jungen geschehen war. Er wollte alles über seine Vergangenheit in Erfahrung bringen, wieso es ihn mitten in der Nacht dünn bekleidet in den Wald verschlug und wieso er so viele Hämatome aufwies.
Sofort schossen Reed die Bilder des Jungen in jener Nacht hoch. Wie seine zierliche Gestalt in seinen Armen lag, wie sich seine dünnen Finger haltsuchend um Reeds Unterarm schlungen und wie flach atmig er gewesen war. Und was es in Reed auslöste. Das Gefühl gebraucht zu werden, jemanden zu beschützen. Noch nie hatte er einen so starken Beschützerinstinkt hervorgebracht und es wunderte ihn, dass dieses Gefühl ihn so übermannte.
Seufzend erhob er sich von dem Stuhl im Krankenhaus. Reed befand sich im sechsten Stock, welche die Intensivstation war und er wusste, dass einer seiner Kollegen sofort hier aufschlagen würde, um den Jungen zu befragen. Er hätte es ja selbst getan, wenn Parker ihn nicht vorzeitig aus den Verkehr gezogen hätte. Ihm blieb wohl oder übel nichts anderes übrig, als seinen Kollegen abzufangen und sich ein wenig einzumischen. Was war schon dabei?
"Reed?",eine weibliche Stimme riss ihn aus seinen Gedanken und der Mann wandte sich um. Es war Audrey einer seiner Kolleginnen. Sie war Mitte dreißig und hatte schon drei Kinder, was Reed immer wieder zum staunen brachte. Er bewunderte ihr Ausdauervermögen. Kinder und Job unter einem Hut zu bringen, war nicht gerade leicht und definitiv nichts für den Mann selbst.
"Was tust du hier? Hat Parker dich nicht beurlaubt?" Ihre dunkel blonden langen Haare wippten aufgeregt, als die schlanke Frau vor ihrem Kollegen zum stehen kam. Sie trug ihre Uniform, die Arme vor ihrer Brust verschrenkt.
Reed lächelte nervös. Natürlich wusste sie das. Wahrscheinlich wussten alle, was Parker angewiesen hatte und nun versuchte sie ihn zur Rede zu stellen.
"Audrey, du weißt doch, dass ich eine durchgehend laufende Maschine bin. So ein kleiner Ausflug im Wald hält mich doch nicht von der Arbeit ab!" Er versuchte ihr weiß zu machen, dass ihn niemand etwas befehlen konnte, wenn gleich er normalerweise sehr respektvoll mit seinen Mitmenschen umging und natürlich auf seinen Vorgesetzten hörte. Nur eben diesmal nicht.
"Reed! Das nennst du einen kleinen Spaziergang in den Wald? Es war um die minus fünfzehn Grad und du hattest nicht mal dein Funkgerät dabei. Du wärst da draußen fast drauf gegangen und jetzt willst du einfach so mir nichts dir nichts weiter machen? Schalt mal einen Gang runter und denk an deine Gesundheit!"
Rees verdrehte genervt die Augen bei der Ansprache der blonden Frau. Wie oft musste er sich diesen Satz noch anhören, dass er an sein eigenes Wohlbefinden denken sollte? Dafür war er einfach zu selbstlos. Seine Mitmenschen waren ihm nun einmal wichtiger.
Er fuhr sich durch seinen dunklen Bart, während er genervt die Luft ausstieß. "Hey, ich weiß das Parker es lieber hätte, wenn ich zuhause seelenruhig im Bett liegen würde und die bittere Kälte der Nacht ausschlafe, aber du kennst mich besser als er. Ich habe diesen Jungen gerettet und deshalb fühle ich mich für ihn verantwortlich. Bitte lass mich doch einfach bei der Befragung dabei sein und dann bist du mich wieder los. Ich möchte doch nur wissen, wer er ist." Reed setzte seinen flehenden Blick auf, den er schon einige Male vor einem Spiegel geübt hatte, eben genau für solche Situationen.
Gerade als er dachte, er würde Audrey kriegen, kam ein Arzt und unterbrach die beiden bei ihren kleinen Disput.
"Guten Tag ich bin Doktor Collins. Sie sind sicher wegen des Jungen hier habe ich recht?" Er notierte etwas auf einem Klemmbrett, rückte dann seine viel zu kleine Brille zu recht und sah zu den beiden Polizisten auf. Audrey seufzte, während sie zu Reed blickte, der ein triumphierendes Lächeln von sich gab. Er hatte sie.
"Ja, ja wir sind wegen des Jungen hier. Ist er ansprechbar?",fragte die dunkelblonde den Arzt. Sie stützte die Hände in die Hüfte, wartete ungeduldig auf die Antwort des Mannes. Ebenso war Reed gespannt auf die Antwort. Zu seiner Überraschung viel diese ziemlich ungewöhnlich aus und ließ alle Alarmglocken in Reeds Kopf aufschrillen.
"Naja, mehr oder weniger. Er scheint nicht reden zu wollen."
"Er redet nicht?",schaltete sich nun Reed ein und erntete einen bestrafenden Blick von seiner Kollegin. Der Arzt nickte bestätigend.
"Wir wollten ihn untersuchen, doch er lässt sich nicht anfassen. Er scheint ziemlich verängstigt zu sein. Wir glauben, dass er..."
Die Informationen überschlugen sich in Reeds Kopf. Sofort fing er alles an zu bearbeiten zu analysieren. Er ließ sich nicht anfassen... das konnte ihn Reeds Augen vieles bedeuten : Gewalt, Sexueller Missbrauch, Angst vor sozialem Kontakt, vielleicht war er auch Authistisch.
"Glaubt das er was?",hakte Audrey hetzend nach und machten Reed wieder hell hörig. Der Arzt zögerte.
"Naja ... Er ist nach unserem Ermessen blind. Er scheint auf keinerlei Bewegungen zu reagieren und schaut immer zu orientierungslos auf einen Punkt."
Er... war blind? Reed war schockiert. Er war sprachlos. Ein blinder Junge, gefunden in den Weiten Kanadas bei bitterer Kälte und Hämatomen auf seinem Körper...das passte nicht zusammen.
"Können wir ihn sehen?" Er wusste das Audrey keine Zeit für unnötige Wortwechsel hatte. Sie war ein Mensch, der es gerne schnell mochte und so wunderte Reed ihr plötzlicher Drang danach den Jungen zu sehen nicht. Doch ihm wäre es lieber gewesen, sich in Zurückhaltung zu üben. Es würde ihn sicher verängstigen, wenn zwei Polizisten plötzlich in seinem Zimmer auftauchten.
Er schaute zu dem Arzt rüber, der abermals zögerte und sich dann geschlagen gab und nickte. Mit seiner Hand deutete er auf ein Zimmer, welches das des Jungen zu sein schien und erlaubte uns es zu betreten.
Reed war aufgeregt. Er wusste nicht wieso, aber er war es. Sein Puls beschleunigte sich, als Audrey kurz an die Tür klopfte und im nächsten Moment vorsichtig die Klinke nach unten drückte. Langsam bewegten sie sich ins Innere und wurden von einer Welle Frischluft erfasst, die durch ein offenes Fenster in den Raum drang, wie Reed bemerkte. Als nächstes flog sein Blick zu dem Tisch neben dem Bett auf dem allerlei Teller mit Essen stand, welches unberührt schien.
"Tut mir leid sie zu stören. Wir sind von der Polizei aus Yelloknife und würden ihnen gerne ein paar Fragen stellen.",machte Audrey die beiden bekannt. Dabei klang ihre Stimme sehr ruhig und sanft. Auf keinen Fall wollte sie den Jungen erschrecken. Reed blickte derweil zu ihm. Er sah genauso aus, wie der Polizist es in Erinnerung hatte. Zitternd saß er an der Bettlehne, mit zerzausten blonden Haaren, welche sein fahles weißes Gesicht schmückten. Reed konnte deutlich die Rippen unter seiner Haut erkennen. Die Krankenschwestern mussten beim Ankommen sein Shirt ausgezogen haben, so verdreckt und zerrissen wie es gewesen war. Nun hatte der Polizist freie Sicht auf unzählige blaue Flecken, die sich auf seinen gesamten Oberkörper ausbreiteten.
"Kannst du uns sagen, wie dein Name ist?"
Noch etwas viel dem Mann auf. Der starre Blick des Jungen, welcher auf das Bett gerichtet war auf dem er saß. Er schien wirklich keinerlei Reaktion in seinen Augen zu haben. Sie wirkten leblos und stumm, wie sein Besitzer. Er war wirklich blind.
So sehr Audrey auch versuchte, irgendetwas aus dem Jungen heraus zu bekommen, so gelang es ihr nicht. Er schwieg unentwegt.
"Kannst du uns wenigstens verraten wie alt du bist?",versuchte sie es erneut, doch es half nichts. Der ganze Körper des Jungen bebte. Er musste wirklich große Panik haben, so dachte Reed und legte eine Hand auf die Schulter seiner Kollegin.
"Lass gut sein Audrey. Er ist verängstigt und wir sollten ihn nicht über strapazieren."
Doch plötzlich schien sich etwas in den Jungen zu regen, denn er richtete plötzlich seine Augen auf in die Richtung, aus der Reeds Stimme zu ihm drang. Reed sah ihn verwundert an. Hatte er etwa seine Stimme erkannt? Die seines Retters?
Der Polizist merkte, dass der vor ihm aufeinmal viel entspannter wirkte. Sein Zittern bebte ein wenig ab, dennoch wirkte er völlig verkrampft.
"Vermutlich hast du recht Reed. Ich komme morgen noch einmal, vielleicht redet er dann."
Reed nickte akzeptierend, doch der Junge ließ ihn nicht mehr los. Noch immer sah er den Polizisten an, oder versuchte es zumindestens. Er zögerte, als seine Kollegin den Raum verließ, ihr zu folgen. Er wollte sich genau das Bild einprägen, welches sich ihm darbot, denn wahrscheinlich würde er den Jungen nicht so schnell wieder sehen.
Er wollte gerade zum Gehen ansetzen, als plötzlich eine sanfte Stimme erklang:"I- Ich bin 19..." Sie war zittrig, aber sehr weich und der Polizist glaubte, noch nie eine unschuldigere, schönere Stimme gehört zu haben.
Reed verharrte einen Augenblick lang in seiner Position, dachte über die gesprochenen Worte des Anderen nach. Er blickte ihn genau an. Diesen armen Jungen, der es geschafft hatte, trotz Blindheit in den weiten Kanadas davon zu laufen. Doch vor was?
Er fühlte sich, als müsste er dem Jungen ebenso eine Information geben, damit ihr Gespräch - wenn man es so nennen konnte - ausgeglichen blieb. Reed wollte das Vertrauen von dem Gegenüber gewinnen und das ging eben nur, wenn er ebenso etwas von sich preisgab.
"Ich bin Reed. Reed Owen Wayne und 31 Jahre alt."
Er war 19! Fast noch ein Kind! Was sollte Reed davon halten?
Er schloss gerade die Tür hinter sich, war überwältigend von seinen Gedanken und Gefühlen, die der Junge in ihm ausgelöst hatte, trotz der kurzen Zeit in seinem Zimmer. Reed fühlte sich erdrückt von einer ungeheuren Wut, die sich auf ihn legte. Diese leeren kalten Augen verfolgten ihn noch immer.
Er fuhr sich angestrengt mit der Hand über sein Gesicht. Niemals hätte er in seiner gesamten Laufbahn als Polizist gedacht, das es einen Fall geben würde, der ihn so beschäftigt. Abgesehen davon war es nicht einmal sein Fall, doch er würde es zu seinem machen und nichts konnte ihn davon abbringen.
"Da bist du ja endlich!" Audrey kam ihren Kollegen mit zwei Kaffebechern entgegen, die sie soeben aus einem Automaten am Ende des Flurs geholt hatte und drückte Reed einen davon in die Hand. Dankend nahm er an.
"Wie es aussieht, ist der Junge nicht wirklich gesprächig."
Reed hätte ihr von der Reaktion des Jungen auf ihn erzählen können. Er hätte ihr über seine wenigen Worten berichten können, das er 19 war. Doch so nett er eigentlich auch sein mag, er schwieg. Er schwieg aus dem ganz einfachen Grund, dass er diese Information alleine für sich haben wollte. Er wollte den Jungen ganz alleine für sich haben, sein Vertrauen und konnte den Gedanken nicht leiden, dass der Blinde sich eventuell seiner Kollegin anvertrauen könnte. Es war nicht seine Art gewesen, so egoistisch zu sein und dennoch war er es. Nur wegen dieses Jungen.
"Was tun wir jetzt?",fragte er seine Kollegin und schob seine Gedanken schnell beiseite. Audrey lachte fassungslos auf.
"So weit ich weiß, tust du erst einmal garnichts. Du wolltest nur bei dieser einen Befragung dabei sein. Tut mir leid, dass wir keine Informationen bekommen haben, aber für dich hat sich der Fall dann wohl erledigt. Was mich an geht, ich werde überprüfen, ob ein blinder Junge vermisst wird."
Mit diesen strengen Worten verabschiedete sich die Frau und zog mit schnellen Schritten ab.
Reed sah ihr verblüfft nach. Sie konnte so eine Hexe sein, wenn sie wollte. Er hätte Stunden lang über sie her fluchen können, doch das Klingeln seines Handys zog die Aufmerksamkeit auf sich. Vielleicht war es ja Parker und wollte ihm nur sagen, dass er wieder weiter arbeiten durfte.
Schnell zog er das Gerät aus seiner Hosentasche. Das Display sprang ihm leuchtend entgegen. 'Unbekannte Nummer'
Kurz zögerte er, unsicher, ob er den Anruf annehmen sollte, doch letzten endes nahm er sowieso an.
"Wayne!",meldete er sich zu Wort und lauschte in den Hörer. Zu seiner Überraschung kam keine Antwort zurück.
"Wer ist da?",fragte er abermals und wieder meldete sich die Person nicht. Panik kam in ihm auf. Er schwitzte. Sofort brach er das Telefonat ab und schaltete sein Handy auf stumm. Wer auch immer ihn angerufen hatte, derjenige hatte es geschafft, den sonst so taffen Officer Reed Rayne in Angst und Schrecken zu versetzen.
Wahrscheinlich war es nur ein dummer Streich. Jemand versuchte den Mann bestimmt rein zu legen. So redete Reed es sich zumindestens ein. Seine Hände zitterten. Er holte tief Luft, zwang seinen Körper sich zu entspannen und einen kühlen Kopf zu bewahren.
Es war nur ein Anruf. Kein Grund zur Panik Reed! Vielleicht hat derjenige sich nur verwählt.
Entschlossen keinen weiteren Gedanken an den Anrufer zu verschwenden, machte er sich auf den Weg nach Hause. Heute Abend stand immerhin noch ein Treffen mit ein paar Kollegen in einer Bar an. Dafür wollte sich der Mann noch ein wenig ausruhen.

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Blind Boy I mxm
RomansaReed, ein Polizist, welcher seine Gefühle gegenüber dem blinden Jungen nicht zu deuten weiß. Er hat ihn einst gerettet, doch nun muss er ihn zwischen all seinen Ängsten und seiner schlimmen Vergangenheit zurück ins richtige Leben bringen. Doch was i...