Nachdem der Blonde gesprochen hatte, nahm er wieder seine Hand zurück. Fast als hätte er gemerkt, dass er zu sehr aus seiner Komfortzone hinausgetreten war. Doch es hatte Wunder bewirkt. Es hatte Reed auf einer gewissen Weise beruhigt. Und die Erkenntnis, das er nicht der einzige war, der manchmal zwischen blanker Panik und aufsteigender Angst schwebte, ließ seinen Puls ein wenig herunterfahren.
Reed stieß zitternd den Atem aus. Das Auto war noch immer hinter ihm und machte keine Anstalten, woanders abzubiegen.
Er würde unmöglich zurück in sein Haus können. Sie waren dort beide in Gefahr.
"Ich rufe meinen Bruder an." Das war das Beste, was er jetzt machen konnte.
In seinem Bordcomputer des Autos wählte er die Nummer von Jason aus, damit er über die Freisprechanlage mit ihm reden konnte und so nicht in voller Fahrt sein Smartphone in der Hand halten musste.
Es dauerte nicht lange, da meldete sich auch schon die altbekannte Stimme des Mannes.
"Hey Brüderchen, was gibt's?"
Reed war viel zu aufgewühlt, um sich über den Wortlaur 'Brüderchen' aufzuregen.
"Bist du zuhause? Ich komme jetzt sofort zu dir. Keine Fragen!", entgegnete der Polizist knapp, doch sein Bruder schien nun doch verwirrt.
"Reed, was ist -"
"Keine Fragen!", stellte er noch einmal klar und legte dann auf. Alles würde gut werden. Sie würden bei Jason sicher sein. Angelica konnte unmöglich wissen, wo dieser wohnte. Sie alle waren damals nach dem Vorfall sofort umgezogen. Angelica hatte es doch nur auf Reed abgesehen und nicht auf seinen Bruder. Niemals.
Die Augen des Mannes hafteten am Asphalt. Er drückte wieder auf die Tube, wagte es nicht zu überprüfen, ob das Auto noch da war. Er wollte einfach weg. Raus aus dieser Stadt. Jason wohnte in einem gemütlichen Blockhaus am Great Slave Lake. Fernab von dem ganzen Großstadttrubel zusammen mit seiner Frau Amy. Sie waren kinderlos, aber hatten einen großen schwarzen Neufundländer, der die beiden genauso gut auf Trab hielt, wie ein Neugeborenes.
Reed entspannte sich allmälich. Die Gedanken an seine Familie lenkten ihn ab. Wie aus Routine blickte er in den Innenspiegel. Er sah in schwarzes Nichts. Es war weg. Das Auto war verschwunden. War sie es doch nicht gewesen und seine Panik hatte ihm nur einen gedankenloses Streich gespielt?
"Meine Eltern...", kam es plötzlich wieder von dem Blonden. Reed hatte ihn schon fast vergessen vor Lauter Gedankengäge und Frustration. Er spürte, wie der Kleine seinen Kopf zu ihm wandte, ganz so als wollte er den Polizisten ansehen. Ganz so, als war er gar nicht blind.
"Meine Eltern haben mich immer Gabriel genannt..." Seine Worte waren bloß ein Flüstern, aber Reed hatte sie deutlich vernommen. Und er wunderte sich über die plötzliche Offenheit des anderen.
"Gabriel? Das ist dein Name?" Das war sein Name! Tausend Glücksgefühle überwältigten ihn. Er hatte ihm seinen Namen verraten. Damit war Reed der Aufklärung des Sachverhalts schon einen Schritt näher, doch ein Detail konnte er dabei nicht ausblenden. Der Blonde hatte in der Vergangenheit von seinen Eltern geredet. Waren sie schon tot? War er deswegen abgehauen? Oder hatte er seine eigenen Eltern sogar umgebracht und war dann geflohen?
Reed schüttelte den Kopf. Sei nicht dumm. Er ist blind und macht nicht den Anschein, als könnte er irgendjemanden etwas tun...
Fast schon beschämt darüber, dass er dies auch nur ein wenig in Erwägung gezogen hatte, schob er auch diese Gedanken wieder beiseite.
Im Augenwinkel sah er, wie der andere nickte.
"Danke, dass du mir deinen Namen verraten hast. Ich freue mich, dich kennenzulernen Gabriel."Reed steuerte das Auto auf ein freies Stück Boden neben Jaysons Blockhütte und kam dann zum Stehen. Als der Motor verstummte, legte sich eine blächernde Stille über die beiden. Der Mann hatte schon wieder Kopfschmerzen von seiner ganzen Aufregung. Er spürte wie verspannt seine Schultern waren und an seinem Nervenhemd zerrten. Ein Wunder, dass er es noch trug bei der ganzen Aufregung in letzter Zeit.
Er zog den Schlüssel aus der Zündung und steckte diesen klimpernd in seine Hosentasche. Plötzlich legte sich ein Lichtschwall über den Hof. Jayson spazierte aus seiner Haustür direkt auf das Auto seines Bruders zu. Reed konnte deutlich die Fragen in seinem Kopf sehen.
"Verdammt, was ist-",begann Jayson, als er die Autotür aufzog, doch verstummte gleich wieder. Reed wusste, dass er Gabriel entdeckt hatte. Sofort verschwand der fragende Ausdruck von Jaysons Gesicht. Stattdessen blickte er neugierig zwischen den beiden hin und her.
"Wer ist das? Ein Kollege? Du bist doch nicht dieser Colton oder?", sagte er und lugte mit seinen dunklen Augen zu Gabriel rüber. Ach Mist. Reed hatte ganz vergessen seinem Bruder von dem Jüngeren zu erzählen. Dafür hatte er anscheinend genug darüber geredet, was zwischen ihm und Colton abging.
"Nein, ist er nicht.", beantwortete er die Frage des Anderen schnell. Gabriel sollte sich nicht gleich schon unwohl und bedrängt fühlen.
"Ich erzähle dir alles, wenn wir drin sind. Geh schon mal vor.",wies er seinen Bruder an. Dieser nickte und entfernte sich dann wieder geduldig. Reed sah ihm noch nach, wandte sich dann zu den Jüngeren um.
"Wir werden eine Weile bei meinem Bruder Jayson und seiner Frau Amy bleiben müssen. Ich weiß, das du dich in der Gegenwart von anderen Menschen unwohl fühlst, das habe ich schon festgestellt. Aber sie sind wirklich nett und werden nichts tun, was du nicht möchtest. Ich vertraue ihnen." Der Ältere wusste, dass sich die ganze Angelegenheit als schwierig erweisen würde. Er schien höchst sensibel zu sein. Zerbrechlich wie eine Vase. Ein falsches Wort oder eine falsche Handlung konnte dabei entscheident sein, ob Gabriel die errichtete Stätte des Vertrauens wieder Einriss oder nicht. Zwar war noch keine Rede davon, dass man sich aufeinander verlassen konnte, wie alte Schulfreunde oder sonstiges, aber das was sie hatten, wollte Reed nicht sofort niederreißen.
Zu seiner Überraschung nickte Gabriel zögerlich, schien dann aber ein wenig entschlossener zu sein.
"Gut...", sagte Reed, bevor er seinen Anschnallgurt löste und dies auch bei dem anderen tat. "Dann lass uns mal zu meinem Bruder reingehen."
Zügig verließ er den Fahrersitz, um dann Gabriel hinaus ins Freie zu bringen. Dabei hatte er noch immer einen sehr unsicheren Gang und klammerte sich wie vorhin wieder an den Arm des Polizisten.
"Mein Bruder wohnt in einer Blockhütte mitten am Great Slave.",erklärte er beiläufig, als sie sich zur Haustür begaben. Dabei fiel Reeds Blick auf das kühle dunkle blau, welches angestrahlt von dem Mond bedrohlich wirkte. Als könnte es alles mit einem Mal verschlingen und für immer in die Tiefe hinab ziehen. Nicht mehr lange und er würde von den sinkenden Temperaturen komplett zugefroren sein.
"Es sind vielleicht 300 Meter die uns von ihm trennen. Dazwischen stehen große mächtige Tannen, die sich übrigens auch um uns herum befinden. Man könnte eigentlich sagen, dass mein Bruder in einem Wald lebt!"
Geschützt vor Angelica...
Er schob den Gedanken beiseite.
Zu schade war es, das Gabriel nichts sehen konnte. Wie es wohl sein musste, wenn man nur noch Dunkelheit und Geräusche wahrnahm? Da bekam man sicherlich eine ganz andere Sichtweise auf die Welt und das Leben.
Gabriel hielt kurz inne und reckte seinen Kopf Richtung See. Reed konnte sehen, wie sehr er sich bemühte, sich das Bild in seinem Kopf vorzustellen, doch dann wandte er sich wieder ab und ließ resigniert den Kopf hängen. Seine Augen verängten sich zu schlitzen, als musste er seinen Ärger runterschlucken. Reed hätte ihm am liebsten aufmunternd auf die Schulter geklopft, doch konnte sich zurücknehmen.
Als sie in das Haus eintraten, kam ihnen ein Schwall von Wärme entgegen. Doch nicht nur das. Ein riesiges schwarzes Tier stürmte auf sie zu, erhob seine pechschwarzen Pfoten. Dabei landete es direkt auf Gabriels Oberschenkel, welcher erschrocken zurücktaumelte und dabei Reeds Arm los ließ. Auf seinem Gesicht zeigte sich Panik.
"Gabriel hey, es ist alles gut... Das ist nur Maja der Hund.", sagte er ruhig und bestimmt. Er zog die Aufmerksamkeit des Tieres auf sich, so dass es nur noch kurz an dem anderen schnupperte und dann zu Reed stolperte.
"Tut mir leid. Normalerweise ist sie nicht so ungestüm." Jayson war wieder aufgetaucht. Er hatte das Schauspiel beobachtet und pfiff nun die prollige Hündin zurück. Als sie bei ihrem Besitzer ankam, legte dieser eine Hand auf ihren Kopf, um sie mit leichtem Kraulen an Ort und Stelle zu behalten.
"Du solltest deinen Hund besser im Zaum halten Jay. Sonst liegst du bald im Körbchen und Maja schläft in deinem Bett.",entgegnete Reed lachend. Gabriel schien sich ein wenig entspannt zu haben, denn er machte einen unsicheren Schritt nach vorne.
"Wenn es nach Amy ginge, dann würde ich schon längst auf dem Boden schlafen.",scherzte nun sein Bruder, aber Reed war der scharfe Unterton nicht entgangen. So gerne er auch weiter nachgefragt hätte, ob es zwischen Ihnen Probleme gab, wollte er sich jetzt auf das wesentliche konzentrieren. Gabriel!
"Wie dem auch sei. Können wir uns setzen?"
Jayson zuckte belanglos mit den Schultern. "Klar, kommt. Solange Amy noch arbeiten ist, können wir ins Wohnzimmer. Sonst will sie ja immer in Ruhe ihre Serie schauen..."
Sie folgten dem dunkelhaarigen Mann in einen großen Raum in dem ein schwarzes Sofa stand mit einem kleinen Couchtsich. Reed kannte die Einrichtung seines Bruders bereits. Sie war sehr sporadisch. Nur das Nötigste. Und würde Jaysons Frau nicht hin und wieder ein wenig Deko hinstellen, konnte man fast schon die Beschreibung kühl und leblos benutzen. Jaysons Geschmack glich einem OP. Steril, minimalistisch und nichtssagend. Typisch Arzt eben...
Reed führte den Jüngeren zu der Couch und sagte ihm, dass er sich nun setzen konnte. Spätestens jetzt musste sein Bruder der geniale Arzt ja gemerkt haben, dass der Neuankömmling nicht im Stande war, zu sehen.
"Also...",begann dieser und faltete die Hände. Maja gesellte sich zu ihnen und hielt sich diesmal zurück.
"Wen hast du mir da mitgebracht Reed?"
"Nun ja...", begann der Polizist. "Du erinnerst dich sicher noch an den Einsatz, wegen dem ich eingeliefert wurde, oder?"
Jayson nickte und plötzlich wurden seine Augen groß.
"Moment mal. Ist das der Junge? Den du gerettet hast?", fragte er aufgeregt und musterte dann den Blonden von oben bis unten. "Wieso ist er bei dir?"
"Darum geht es nicht. Können wir bei dir bleiben nur für ein paar Tage?"
Gabriel rutschte neben ihm nervös auf der Couch herum. Er mochte es anscheinend nicht, wenn er im Mittelpunkt stand.
"Du kannst nicht irgendjemanden mit zu mir bringen, den ich kaum kenne und dann verlangen, dass ich euch einfach so aufnehme, ohne zu wissen warum. Was ist los Reed? Du weißt doch, dass du mit mir über alles sprechen kannst."
Der Mann seufzte. Natürlich wollte Jayson mehr wissen. Es war sein gutes Recht.
"Du hörst dich schon fast an wie unsere Mutter.", entgegnete er und wich dann seinem Blick aus. Er wollte dem anderen einfach nicht von Angelica erzählen. Er würde sich nur unnötig Sorgen machen und ganz nebenbei vermochte er es auch nicht, dass Gabriel von dieser schrecklichen Frau erfuhr. Er sollte sich doch sicher bei dem Polizisten fühlen.
Reed beobachtete wie sich Maja plötzlich vorbei an seinen Beinen schlich, um an Gabriels Hand zu lecken. Sie versuchte wohl einen Neustart. Der Blonde zuckte erst zurück, doch realisierte dann, dass es wieder dieser Hund war. Vorsichtig näherte er sich der feuchten Hundeschnauze, die ihn daraufhin sacht anstupste. Ein kurzes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. Reed hätte es fast verpasst. Er hatte gelächelt. Nur ganz kurz, aber es war da gewesen und das füllte ihn mit Freude. War Gabriel doch nicht so verloren, wie er den Anschein erweckte?
"Reed!", rief ihn sein Bruder bestimmt, damit er wieder seine Aufmerksamkeit bekam.
"Ich kann es dir nicht sagen Jayson. Noch nicht. Du musst mir einfach vertrauen, also lass uns bitte ein paar Tage hier bleiben."
Jayson seufzte unzufrieden und lehnte sich zurück.
"Na gut Reed. Dieses Vertrauensdingsbums hat mich überzeugt, aber bleibt bitte echt nicht so lange. Amy wird sonst zum Teufel. Am besten rufe ich sie sofort an und warne sie schon einmal vor." Damit sprang er auf, zückte sein Handy und verschwand in der Küche nebenan.
Maja, die noch immer bei den Jüngeren stand, hatte nun ihren Kopf auf seinem Schoß abgelegt und wedelte freudig mit ihrem Schwanz, als er ihr behutsam über den Kopf fuhr.
"Sie mag dich.", sagte Reed und begann ebenfalls das Fell des Hundes zu streicheln. "Sie ist sehr wählerisch musst du wissen. Die meisten Fremden werden mit einem lauten Geknurre davon gejagt."
Er sah Gabriel ins Gesicht, doch konnte keine Reaktion erhaschen.
"Hattest du schon einmal einen Hund?", fragte er dann, um den Jüngeren zu einer Konversation zu zwingen. Das war zwar nicht Reeds Art, da er das Gegenüber immer Zeit ließ, aber bei Gabriel hatte er einfach einen starken Drang danach, mehr von ihm zu erfahren. Dieser schüttelte kaum merklich den Kopf, aber Reed hatte es vernommen.
"Ich auch nicht. Ich wollte immer einen haben, aber als Polizist ist es schwierig sich um einen zu kümmern, wenn man immer lange Nachtschichten und Tagschichten hat. Da bleibt nicht viel Zeit." Und wie hätte er sich dann um ihn kümmern sollen? Es war die beste Idee gewesen, zu seinem Bruder zu fahren. Gabriel wäre bei Reed immer alleine gewesen und hier war zu Not immerhin der Hund da.
Jayson kam zurück ins Wohnzimmer."Alles abgeklärt."
Reed nickte daraufhin und ließ sich nach hinten in die Rückenlehne fallen.
"Perfekt, danke."
"Was jetzt?", fragte Jayson und setzte sich wieder. Seine dunklen Augen flogen zu seinem Hund, der noch immer ausgiebig Aufmerksamkeit bekam.
"Hast du schon gegessen? Wir könnten essen bestellen. Ich glaube Gabriel hatte noch nichts.", meinte Reed. Er hatte recht. Gabriels Hand ging automatisch zu seinem Bauch. Fast so, als war ihm erst jetzt aufgefallen, wie hungrig er eigentlich war.
"Gute Idee. Ich bestell uns Pizza."
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Blind Boy I mxm
RomanceReed, ein Polizist, welcher seine Gefühle gegenüber dem blinden Jungen nicht zu deuten weiß. Er hat ihn einst gerettet, doch nun muss er ihn zwischen all seinen Ängsten und seiner schlimmen Vergangenheit zurück ins richtige Leben bringen. Doch was i...