7

150 19 4
                                    

Er war noch nie zuvor so entschlossen gewesen, eine Sache durchzuziehen, wie jetzt. Noch nie hatte er etwas so sehr gewollt.
Der Mann zog seine Jacke vom Haken, welcher an der Wand neben der Haustür platziert war und griff nach seinen Autoschlüsseln. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es bereits fünf Uhr am Nachmittag war.
Draußen war es dunkel. Fast schon stock finster, würde der Bewegungsmelder seiner Lampe auf dem Hof nicht reagieren und ihm Licht spenden.
Er zog den Kragen seiner Jacke weiter höher zum Kinn, um sich vor der Kälte zu schützen. Wohlmöglich würde es heute Nacht wieder Unmengen an Neuschnee geben.
Mit steifgefrorenen Fingern öfnete er seinen Wrangler, schlüpfte schnell hinein und schloss die Tür. Er fröstelte. Wieder musste er dabei an jene Nacht denken.
Wahrscheinlich würde die Kälte ihn jedes mal daran erinnern.
Er startete den Motor und rollte von seiner Einfahrt hinunter.
War sein Vorhaben riskant? Deinitiv. War es dämlich einfach einen fremden Jungen aus dem Kinderheim zu holen, ohne jegliche Genehmigungen? Auch das schien zuzutreffen. Und noch dämlicher war es, dass er den Jungen zu sich nach Hause bringen wollte, wo Angelica uneingeschränkten Zugriff auf ihn haben würde. Doch alles woran er dachte war, dass er ihn ganz schnell daraus haben wollte. Und da ihm keine Alternative einfiel, sah er keine andere Möglichkeit, als dieses törichte Vorhaben durchzuziehen.
Als er den Parkplatz vor dem großen bekannten Gebäude erreichte, hatte der Schneefall eingesetzt. Die Straße war glatt gewesen, doch sie hinderte den Polizisten nicht.
Geschwind stieg er aus und kämpfte sich seinen Weg durch das fröhliche Flockentreiben bis hin zu der großen Flügeltür, an der er erst vor ein paar Stunden mit Alef gestanden hatte. Er klingelte und es dauerte diesmal nicht lange, da öffnete sich die linke Seite.
"Was wollen sie denn schon wieder hier. Waren sie nicht erst heute Mittag da?" Es war die gleiche knauserige alte Frau von vorhin. Wieder rückte sie ihre Brille zurecht, als sie denn Mann skeptisch beäugte.
"Ich will den Jungen!", platzte es Reed heraus, doch stieß auf keinerlei Reaktion von der Dame. Sie blieb stumm. Vielleicht hatte er seine Forderung ein wenig barsch rüber gebracht.
"Ich möchte ihn mitnehmen. Jetzt!"
"Fangen sie gleich an mir zu drohen und nehmen ihn als Geisel? Sie können doch nicht einfach auftauchen und ihn mitnehmen, wie es ihnen beliebt. Wir sind keine Tierhandlung.", entgegnete sie monoton und wollte gerade wieder gehen, als Reed sich zwischen den Türspalt zwängt. Er erntete einen verblüfften Ausdruck.
"Sie wollen ihn doch gar nicht hier haben. Er ist blind und nur eine Last für sie. Er lässt sich doch noch nicht einmal anfassen, aber von mir schon. Er vertraut mir...", sagte er voller Hoffnung und schien mit seinen Worten voll ins Schwarze zu treffen. Die Dame seufzte, dann nickte sie langsam.
"Also gut. Aber das bleibt unter uns. Sie dürfen es niemanden verraten."
Reed nickte hektisch. Wie ein kleines Kind, was gefragt wurde, ob es ein Eis zum Nachtisch haben wollte.
"Folgen sie mir. Ich bringe sie zu ihm auf sein Zimmer."
Die Frau führten ihn zügig in den zweiten Stock. Sie erreichten am Ende des Flurs eine Tür, vor der sie stehen blieben.
"Ich komme noch mit rein."
Wahrscheinlich wollte sie sicher gehen, dass Reed keinen Blödsinn machte. Wie konnte sie nur so etwas von einem Polizisten denken. Naja. Übel nehmen konnte er ihren Gedanken nicht.
Als sie das Zimmer betraten, war Reed plötzlich wieder nervös. Wie zuvor auch schon.
"Hey, du hast Besuch.",krächzte die Frau in den Raum hinein. Reed folgte ihrem Blick und entdeckte den Jungen auf einem Bett. Er saß dort und umarmte ein Kopfkisschen, welches zwischen ihm und seinen angezogenen Knien ruhte. Auf seinem Schreibtisch stand ein Glas mit Saft, welches er kaum angerüht zu haben schien. Innerlich seufzte Reed. Er sollte doch genug zu sich nehmen.
Nach der Ankündigung über den Besucher, hob sich der Blick des Blonden. Seine Haare standen ihm wirr vom Kopf ab.
"Wie war noch mal ihr Name?", fragte sie ihn, doch der Mann ignorierte sie und trat vor.
"Hey ich bins. Reed.", sprach er leise und sanft. Er wollte ihn nicht verschrecken. Kurz glaubte er, eine leichte Regung auf dem Gesicht des Blinden erhascht zu haben. "Du hast gesagt, ich soll dich hier raus holen. Jetzt bin ich hier und löse deine Forderung ein.", sagte er weiter. Der Junge schien zuerst verunsichert von seinen Worten, denn er zögerte, doch dann löste er sich langsam aus seiner Position und streckte seine Beine aus. Er nickte kaum merkbar.
"Gut. Hast du irgendwas, was du mitnehmen möchtest?" Reed war erleichtert. Er hatte Angst gehabt, dass sich der Blonde weigern könnte mit ihm zu gehen. Das es ihm vielleicht doch ganz gut ging in diesem Heim, doch das schien ganz und garnicht so. Es kam eher so rüber, als wollte er so schnell wie möglich von diesen ganzen Kindern weg. Verständlich.
Als Antwort auf die Frage hin, schüttelte er den Kopf. Selbstverständlich nicht. Das Zimmer war beinahe leer.
"Dann können wir ja los.",sagte Reed entschlossen. Er beobachtete genau, wie sich die zierliche Gestalt in eine sitzende Position brachte und sich dann hob. Fast schon wäre Reed nach vorne gestürzt, um ihn zu stützen, da er kurz schwankte. Er fing sich und stand ein wenig unschlüssig da.
"Sie schaffen das schon alleine mit ihm! Nehmen sie am besten den Fahrstuhl. Treppen sind ein wenig schwierig. Denken sie daran, dass hier von keiner erfahren darf. ",kam es von der Tür. Reed hatte ganz vergessen, dass die Frau noch anwesend war.
"Vielen dank." Er sah, wie sie ihm zunickte und dann aus dem Zimmer verschwand.
Er war froh, dass sie nun alleine waren. Er brauchte niemanden, der ihn beäugte.
Der Junge stand noch immer an der Bettkante. Seine Augen waren auf den Boden gerichtet. Diesmal wirkte er nicht so zerbrechlich, wie bei den letzten Malen. Zwar war er immer noch sehr ausgemärgelt, doch er zitterte nicht mehr, was ein gute Zeichen für den Polizisten war.
Reed suchte seine Schuhe, denn barfuß konnte der Junge er nicht in die eisige Kälte.
Er fand sie neben der Tür und hob sie auf. Sie waren nicht besonders schick. Die Anstalt hatte sie bestimmt aus dem hintersten Winkel ihres Kämmerchens gekramt. Er würde neue brauchen, doch für die kurze Dauer würden sie reichen.
"Hier deine Schuhe.", sagte Reed vorsichtig, als er sich wieder dem Jungen näherte. Ganz langsam nahm er die bleiche Hand des anderen und führte sie zu ihnen. Der Blonde zeigte keine Reaktion. Er nahm die Schuhe, ließ sich auf das Bett sinken und zog sie an.
Reed beobachtete ihn dabei, wie er die Schnürsenkel perfekt zu einer Schleife zusammen band und dann aufstand. Er war bereit dieses Haus zu verlassen. So viel stand fest.
"I-ich...wir können...", stammelte er plötzlich vorsichtig und Reed blickte ihn an. Es erfüllte ihn, seine seichte Stimme zu vernehmen, freute sich, dass der Jüngere mit ihm sprach.
Er nickte, doch erinnerte sich dann daran, dass ihn der andere ja garnicht sehen konnte. Das war eine traurige Erkenntnis.
"Alles klar. Dann können wir ja endlich gehen!", antwortete er freudig, doch dann fiel sein Blick auf das dünne Shirt des Jungen. Er würde frieren. Hatten die denn hier keine vernünftigen Sachen zum Anziehen? Es war Winter und sie waren in Kanada!
Ohne zu zögern zog Reed seinen Jacke aus. Er selbst trug nur ein T-Shirt.
"Hier. Zieh meinen Jacke an. Draußen ist es eiskalt und du wirst frieren.", sagte er und reichte sie dem Blonden, der sie langsam anzog. Er atmete angestrengt, so als würde ihm jede Bewegung viel abverlangen. Das machte Reed sorgen. Es würde dauern, bis der Junge wieder bei vollsten Kräften war.
Seine Gedanken rissen ab, als er plötzlich zwei kalte Hände an seinem Handgelenk spürte. Sie fuhren langsam zu seinem Oberarm hinauf, wo sie ihn vorsichtig festhielten. Der Polizist bekam Gänsehaut.
Er schaute auf den Blonden hinunter - er war einen Kopf kleiner als er selbst -, welcher nun wartend an seiner Seite stand.
Reed nahm einen kräftigen Atemzug. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er so die Initiative ergreifen würde. Alles klar, dann mal los.
Ganz langsam, einen Schritt nach den anderen bewegten sie sich vorwärts. Sie verließen das Zimmer und gingen dann den Flur entlang. Reed merkte, dass der Blonde noch nicht viel Kraft hatte und so kam es, dass sie ein wenig länger brauchten. Er war erleichtert, als sie den Fahrstuhl erreichten. Bei jedem Schritt hatte er Angst, der Jüngere würde unter seinem Eigengewicht zusammenbrechen. Es musste ein unglaublicher Kraftakt für ihn sein.
Als sich die Türen des Fahrstuhls öffneten, zuckte der Blinde merklich zusammen.
"Keine Angst. Das ist bloß der Fahrstuhl. Wir gehen rein und fahren damit ins Erdgeschoss.", erklärte der Mann ihm und drängte sie beide in den Kasten. Es schien Reed als würde er seinen Arm nun noch enger umklammern. Sein zierlicher Körper presste sich an ihn. Er zitterte. Wahrscheinlich war er noch nie in so einem Ding, dachte Reed bevor er den Knopf drückte und sich die Türen schlossen. Es gab einen kurzen Ruck und dann fuhren sie nach unten. Der Blinde war angespannt. Sie ließ auch nicht nach, als sie wieder raus ins freie traten. Auf dem Flur herrschte stille. Der dunkelhaarige blickte sich kurz um, ob jemand sie beobachtete, doch alles war menschenleer.
"Wir sind gleich draußen. Dann gehen wir zu meinem Auto, okay?"
Mit einem Blick auf dem neben ihn, vergewisserte er sich, ob dieser verstanden hatte. Er nickte knapp. Wahrscheinlich war er noch zu überfordert von der ganzen Situation.
Wieder bewegten sie sich vorwärts. Reed öffnete die große Flügeltür und sofort bließ ihnen kalte Winterluft entgegen. Der andere presste sich nun noch enger an ihn. Er schnürrte Reed fast seinen Arm ab. War ihm kalt? Hatte er Angst? Aber wovor?
Er war verrückt. Reed hatte es tatsächlich getan. Kam das schon einer Entführung gleich? Er hatte den kleinen einfach mitgenommen. Ohne Genehmigung oder sonstiges. Aber er konnte nicht anders. Er hatte ihm gegenüber so einen großen Beschützerinstinkt. Noch nie hatte er solch ein intensives Gefühl verspürt und er hätte es sicherlich bereut ihn zurückzulassen.
"Wir sind am Wagen. Du kannst dich rein setzen.", sagte Reed, als sie an seinem Wagen ankamen und er die Beifahrertür geöffnet hatte. Der Druck von seinem Arm verschwand und der kleine tastete sich vorsichtig an dem Sitz vor, bevor er sich hinein begab. Reed schloss dann leise die Tür, bevor er um das Auto herum ging und sich ebenfalls ins Innere begab. Endlich saßen sie drin.
Angestrengt stieß er die Luft aus. Ein Blick zur Seite verriet ihm, dass der Blonde geduldig mit großen Augen verkrochen in Reeds Jacke im Sitz saß. Seine Arme hatte er vor seiner Brust verschränkt.
Der Mann steckte den Schlüssel in die Zündung und startete den Motor. "Wir fahren zu meinem Haus.", informierte er, bevor er das Auto vom Parkplatz steuerte und auf der Straße Gas gab.
Die Straße war matschig von dem ganzen Schnee und spiegelte das Licht der Straßenlaternen wieder. Es war nicht glatt, dennoch steuerte Reed seinen Wagen vorsichtig über die Ampelkreuzungen. Im Rückspiegel leuchteten verdächtig die Scheinwerfer eines Wagens, welcher viel zu dicht auffuhr und Reed verfluchte augenblicklich den Fahrer. Er hasste es, wenn er so bedrängt wurde.
"Hast du eigentlich einen Namen?", fragte er plötzlich unerwartet den Blonden. Dieser hatte die ganze Zeit keinen Mucks von sich gegeben. Wieso überrumpelte er ihn jetzt so? Viel ihm nichts besseres ein, um sich zu beruhigen?
Doch wie zu erwarten, kam keine Antwort.
"Ich finde, wir sollten uns ein wenig kennenlernen, wenn du jetzt mit mir unter einem Dach lebst.", sprach er weiter, während seine Augen wieder in den Innenspiegel glitten. Er konnte die Person, die am Steuer sah, nicht erkennen.
"Mich kennst du ja schon ein bisschen. Mein name ist Reed Owen Wayne, 31 Jahre alt und Polizist. Meine Haare sind schwarz, meine Augen sind braun und ich bin nicht der untrainierteste, um es mal ganz neutral auszudrücken. Vielleicht hilft es dir ja ein Bild von mir zu machen." Er fragte sich, ob der Junge ihm überhaupt zuhörte. Seine Gedanken schienen ganz woanders zu hängen, doch Reed konnte sich auch täuschen und vielleicht hörte er dem Älteren ganu gebannt zu.
Als jedoch immer noch keine Antwort von dem anderen kam, gab er seinen Versuch auf. Er musste dem Blonden Zeit lassen. Er würde sich noch schnell genug an seine Gegenwart gewöhnen.
Reed bog nach rechts ab, als die Ampel grün wurde. Wieder fuhr das Auto so dicht auf, dass er das Gefühl hatte, dass es in sie reinkrachen würde, wenn er jetzt bremste. Was wollte der gottverdammte Typ von ihm? Er folgte Reed jetzt schon über fünf Ampelkreuzungen und machte keine Anstalten Meter zwischen ihnen zu bringen.
Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er hatte schon den ganzen Tag keinen einzigen Anruf bekommen... Der Einbruch letzte Nacht... Konnte es wirklich sein?
Sein Puls stieg plötzlich stark an. Reed spürte, wie sich Gänsehaut über seinen komplettem Körper legte. Seine Hände fingen an zu schwitzen und er drückte fest das Lenkrad in seiner Hand, als seine Sicht kurz verschwamm. Das war nicht möglich! Sie konnte doch unmöglich wissen, wo er sich befand. Hatte sie ihn die ganze Zeit beobachtet? Den ganzen Tag über?
Sie würde jetzt bescheid wissen über den Jungen, sie würde keine Ruhe geben...
Ihm wurde schlecht. Vergeblich versuchte er seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Er hielt die Luft an, musste sich beruhigen. Lass dich nicht verunsichern!
Seine Gedanken rasten. Seine Angst war nun wieder allgegenwärtig. Fast automatisch drückte Reed aufs Gas, beschleunigte enorm, um das Auto hinter ihm abzuhängen.
Sie hatte alles wieder in ihm hochgeholt. Alle Gefühle, die er damals in seinem Unterbewusstsein weggeschlossen hatte, drangen nun wieder hervor. Sie drohten ihn einzunehmen. Er konnte das nicht mehr. Nicht noch einmal. Nie wieder würde er das ertragen können...
Reed zuckte erschrocken zusammen, als ihm etwas an seinem Handgelenk berührte. Sein Körper zitterte vor seelischer Anstrengung, als er seinen Kopf herumfuhr und geradewegs in warme braune Augen sah.
"Du hast Angst..."
Für einen Moment schien die Welt still zu stehen. Sein Fuß ging vom Gas, das Auto wurde wieder langsamer. Nur gedämpft waren die leisen Worte zu ihm durchgedrungen. Doch dann hörte er sie wieder. Er hörte wieder die Stimme, die ganz tief in seinem Inneren einen Schalter umlegte, der mit einem Mal jegliche Panik verstreichen ließ. "Ich kenne das... Ich kenne diese Angst... "

Blind Boy I mxmWo Geschichten leben. Entdecke jetzt