zweiundzwanzig

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Die Kälte um ihre betäubten Handgelenke war das erste, was an Cheryls Bewusstsein drang. Ihre Augen öffneten sich nicht, aber der vertraute Geruch ihres Lieblingsmenschen verriet, wessen Finger sich festkrallten. Deshalb rutschte sie so gut wie möglich im Bett heran, aber Toni schlief wohl. Ihr Atem war lang und die Schwere, die zusätzlich auf Cheryls Arm drückte, musste ihr Kopf sein.

Nach mehrmaligem Blinzeln und zwei Seufzern schaffte es Cheryl mit klarer Sicht im Krankenhauszimmer zu erwachen. Zuerst schrie ihr das Weiß der Wände entgegen und sie hasste die sterile Einrichtung. Es erinnerte an die kahlen Zellen bei den Schwestern. Aber dieses Mal war Toni bei ihr, die sicherstellte, dass Cheryl nie wieder an diesen schrecklichen Ort kommen würde. Sie rückte noch näher, bis ihre Taille fast an ihren Kopf stieß. Sie wollte Toni einfach so nah wie möglich sein, denn sie war zu knapp dran gewesen, diesem Mädchen nie wieder nah sein zu können. Im Winkel nahm Cheryl kurz die Blumen wahr, die wahrscheinlich Kevin vorbeigebracht hatte. Tonis Gesicht wandte sich ihr zu, immer noch schlafend. Sie musste die ganze Nacht neben ihrem Bett gesessen haben. Im Schneidersitz nah herangerückt und mit starrer Wirbelsäule, die ihr weh tun würde, wenn sie aufwachte.

Aber jetzt nahm sich Cheryl die Ungestörtheit des Morgens und betrachtete die Schönheit vor ihr.

Ihr tat es unendlich leid, dass Toni hatte sehen müssen, was ihre Mutter tat und wenn sie es ungeschehen machen könnte, würde sie die Tür so verriegeln, dass Toni niemals hereingekommen wäre, um ihr im Nachhinein den Schuss ersparen zu können. Cheryl konnte sich nicht vorstellen, wie sie durchgedreht wäre, hätte die Kugel nicht ihre Schulter, sondern Tonis getroffen. Sie wäre augenblicklich auf ihre Mutter losgegangen und hätte ihr ohne Rücksicht auf Konsequenzen den Hals umgedreht.

Als würde Toni sie davon abhalten wollen, ballten sich kurz ihre Finger zusammen. Ein Schauer durchfuhr Cheryl. Sie durfte auf keinen Fall an das Was-wäre-wenn denken. Lieber konzentriere sie sich darauf, dass sie lebendig hier lag und das Beste, was ihr passieren konnte, noch nicht abgehauen war.

Oh man, Tonis Hände, deren Daumen automatisch über ihren Handrücken strich, waren die weichsten, die sie je berührt hatte und sie passten so gut, dass es schien, als wären die Mädchen dafür geschaffen worden, um einander bei den Händen zu halten. Gleiches galt für ihre Lippen. Früher hatte Cheryl geglaubt Küsse fühlten sich rau an, zum Beispiel als Archie sie küsste, und dass nicht alles passte wie Deckel auf Topf. Aber bei Toni war das nie so. Sie hat Cheryl geküsst und plötzlich verstand diese, warum es sich mit keinem anderen richtig angefühlt hatte. Sie hat wohl nur darauf gewartet, über diesen perfekten Menschen zu stolpern.

Cheryl hätte auch niemals erwartet, dass sie in diesem Ausmaß jemanden lieben würde – vor allem nicht, weil ihre erste Begegnung einen Streit darstellte. Sie hatte Menschen getroffen, die hübsch waren, und Menschen, die alles andere außer angenehme Genosse waren. Als Toni sie zum ersten Mal direkt angesehen hatte, hat Cheryl daran geglaubt, dass Liebe auf den ersten Blick tatsächlich existieren musste. Dieses Gefühl, was sie in Pop's Diner hatte, war wie eine Einladung, als hätte eine Fremde vor der Haustür gestanden, aber mit dem ersten Schritt hinein war Toni keine Fremde mehr, sondern ihr liebster Freund. Es war dieses »Wo hast du mein Leben lang gesteckt?«, dieses »Du wirst es sein, du musst es sein«.

Sie hatte aber auch geglaubt, dass diese Überwältigung schnell wieder verschwinden würde. Es war unmöglich zu denken, dass die Eiskönigin verliebt war. Aber Überraschung – es war nicht so. Sie fühlte es mit jedem Blick zu Toni, auch gerade eben, und in jedem Kuss schmeckte sie es und sie dachte darüber nach, Toni zu wecken und zu sagen, dass es vollkommen vernünftig wäre, an Ort und Stelle in diesem Krankenhauszimmer durchzubrennen. Hauptsache sie verbrächten die Ewigkeit miteinander.

Toni folgte immer noch der Streichelbewegung ihres Daumens. Wahrscheinlich war das so eine Sache, die jede schlimme Situation besser aussehen ließ. Die beiden könnten den Streit ihres Lebens haben, aber wenn sie Cheryls Hände nachfuhr, vergab sie ihr jede Sünde. Oder beging jede Sünde mit ihr. Das stand offen zur Diskussion.

Rot ist eine warme Farbe (Choni)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt