6. Kapitel Der Abschied

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6. Kapitel Der Abschied

Die Tage bei ihrer Großmutter ließ den Schmerz und die Demütigungen langsam verblassen.

"Warum Ich", fragte Jonata am nächsten Morgen. "Ich fühle mich nicht anders als gestern", überlegte sie laut. "Es gibt Dinge die können wir uns nicht aussuchen. Dein Leben hat eine besondere Bedeutung", versuchte Ällin sie zu überzeugen.

Jonata saß auf dem Schemel hinter dem Haus in der Sonne. Sie betrachtete das Amulett in ihrer Hand. Die Zeichen darauf waren fremd. Ehrfürchtig strich sie mit den Fingern über den Stein und spürte die Vertiefungen. Eine lange Strähne hatte sich aus ihrem Zopf gelöst. Unbewusst strich sie diese aus dem Gesicht und steckte sie hinter ihr Ohr.

Ällin hatte damit begonnen, ihr auf einem Brett die unterschiedlichen Runen zu zeigen. "Schau ich erkläre dir, wie sie heißen. Du musst sie lernen, um verstehen wann du welches Symbol einsetzen kannst. Sie sind jetzt dein Werkzeug", versuchte ihre Großmutter die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Jonata war mit ihren Gedanken weit weg von diesem Ort. Kaspar hatte sich zu ihren Füßen niedergelegt und döste in der Morgensonne. Sie spürte seine Wärme und die Ruhe, die von ihm ausging.

Ällin beobachtete ihre Enkelin und ein Schmunzeln breitete sich in ihrem Gesicht aus. Sie war so rein und unschuldig.

"Ich bin nichts besonderes. Nur die Tochter eines Bauern. Mein Leben war für die Arbeit auf dem Feld vorbestimmt. Der Schmied wollte mich heiraten", sinnierte sie vor sich hin.

„Und warum bist du dann weggelaufen", entgegnete Ällin. „Wenn es doch das war, was du wolltest. Du hättest bleiben und dein Leben so leben können."

Jonata schwieg. 'Sie hatte recht. Warum bin ich dann hier bei Ällin und nicht mehr auf der Burg', schwirrten die Gedanken durch ihren Kopf.

„Du bist eine mutige Frau. Du wirst alles schaffen, was du dir vornimmst", sagte Ällin.

Danach stand sie auf und ließ Jonata allein.

Das positive und erhabene Gefühl, welches sie unmittelbar nach dem Ritual hatte, war schnell verflogen. Selbstzweifel lähmten sie. ‚Soll ich doch wieder zurück gehen und Sebolt heiraten? Er passt auf mich auf und mein Leben ist um vieles einfacher', grübelte Jonata vor sich hin.

Die Tatsache, dass das Amulett jetzt ein Teil von ihr war und deren Bedeutung für ihr zukünftiges Leben, machte ihr Angst. Sie wollte sich der Herausforderung nicht stellen. Diese Ungewissheit raubte ihr den Atem. Sie wollte sich nicht entscheiden müssen. Ein Schauer lief über ihren Rücken. ‚Ich werde morgen noch mal darüber nachdenken', entschloss sie sich und stand auf, um ihrer Großmutter bei der Reparatur des Daches zu helfen. Die Binsen lagen überall zerstreut und Jonata fing an sie einzusammeln. Die Arbeit tat ihr gut, lenkten sie sie doch ab.

Am Abend war das Dach wieder ausgebessert und beide Frauen saßen an dem Tisch und aßen das bescheidene Mahl, welches aus etwas gekochtem Gemüse und altem Brot bestand. Stille erfüllte den Raum. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

„Ich habe hier ein Geschenk für dich", unterbrach Ällin die Eintracht. Jonata riss die Augen auf und schaute erwartungsvoll in das Gesicht ihrer Großmutter. Diese zog einen kleinen Beutel aus Leinen hervor und legte ihn direkt vor Jonata auf den Tisch. Der Stoff war abgegriffen und fleckig. Mit zusammengezogenen Augenbrauen berührte sie zaghaft das kleine Säckchen. „Was ist da drin", fragte sie.

„Öffne es und du wirst es sehen", sagte Ällin geduldig. Vorsichtig löste Jonata den Knoten, der den Beutel zusammen hielt. Dann schüttete sie den Inhalt auf den Tisch aus. Kleine unregelmäßig geformte Knochen kamen zum Vorschein. Auf jedem war ein anderes Zeichen ein gekratzt. Überrascht betrachtete Jonata die vor ihr liegenden Runen. „Das kann ich nicht annehmen", sagte sie. „Kannst du, denn sie gehören jetzt dir", erwiderte Ällin. „Die Runen sind genauso, wie das Amulett, dein."

Die Runenträgerin 1. Platz  aroundtheworldaward+  2. Platz obsidianawardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt