Kapitel 12

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Tea steht außen am Zaun auf der Besucherterasse des Flughafens und winkt dem abhebenden Flugzeug. Ich habe Tränen in den Augen, trotz dem geplanten Wiedersehens in zwei Wochen. Als wir einige Stunden auf der Landebahn des JFK-Flughafens aufsetzten, folgt die gleiche Tortur wie einige Wochen vorher. Ich bekomme keinen Taxifahrer überredet, mich zu meiner Wohnung zu bringen und nehme diesmal die U-Bahn. Als ich an meiner Haltestelle ausgestiegen bin, laufe ich die Straße entlang. Kentos kleiner Laden ist geschlossen, doch ansonsten ist alles so, wie ich es verlassen habe. Einige Kinder spielen Basketball und ich schließe die Tür zu meiner Wohnung auf. Drinnen angekommen öffne ich das Fenster und setze mich auf mein Bett. Die Szene erinnert mich stark an das letzte Mal, als ich in dieser Wohnung nach einer langen Reise angekommen war, allerdings hat sich seither ein großer Punkt in meinem Leben geändert: Ich bin jetzt glücklich.

Die nächste Zeit vergeht ohne besondere Vorkommnisse. Jeden Tag entdecke ich einen anderen Teil von New York und lerne meine neue Heimat immer besser kennen. Mich fasziniert das Zusammentreffen unterschiedlichster Kulturen und Personen in den verschiedenen Stadtteilen. Kaum läuft man um eine neue Straßenecke, verändert sich das Stadtbild komplett. Ich treffe mich einige Male mit Kento und Bella und arbeite nachts im Juicy Lucies. Es scheint allerdings in letzter Zeit nicht sonderlich gut um diesen Laden zu stehen: Ein neuer Club hat eine Seitenstraße weiter eröffnet und seither fehlen die Kunden, erklärt mir Bella eines Abends. Auch unsere Chefin sieht nicht sonderlich glücklich aus und man merkt ihr an, dass sie besorgt auf die Zukunft des Stripclubs schaut. Einige Mädchen haben sich schon in anderen Nachtclubs beworben, da die Trinkgelder immer kleiner ausfallen und es sich kaum mehr lohnt, hier zu arbeiten. Ich bin bestürzt von dieser schnellen Wendung, da es doch vor vier Wochen noch ziemlich voll und gut besucht war.

Als ich eines Abends herumspaziere, um die vielen bunten Lichter der Großstadt mit ihren Neonreklamen und den herumwuselnden Leuten zu begutachten, bleibe ich erneut vor einem kleinen Broadway Theater stehen. Sie führen ein offenes Casting für die neue Besetzung eines Musicals durch. Ich überlege hinzugehen. In meiner Studienzeit habe ich gerne gesungen und war sogar eine Zeit lang in einem Gospelchor Mitglied, bis sich dieser aufgelöst hat, weil alle Frauen schwanger wurden und der Sopran komplett unterbesetzt war. Damals befand ich mich sowieso schon in einer depressiven Phase, da ich mir nicht sicher war, ob ich es jemals schaffen würde, ein halbwegs beständiges Leben zu führen. Doch das ist nun vorbei. Ich möchte durch das Singen nicht wieder alte Gefühle hochkommen lassen. Ich versuche mich von dem Gedanken zu lösen, erneut auf eine Bühne zu steigen und so meine Vergangenheit hinter mir zu lassen.

„Hallo, schöne Lady, kennen wir uns nicht?", werde ich plötzlich von hinten in gebrochenem Englisch angesprochen. Der Mann hat einen arabischen Akzent und ich wirble herum: „Ich denke nicht, sie müssen sich irren." Er ist mir gänzlich unbekannt. Als er mein Gesicht sieht, nimmt er die Hand von meiner Schulter, die er darauf abgelegt hatte. „Oh, Verzeihung, ich habe dich für einen Moment für eine Freundin von mir gehalten, mit der ich früher gemeinsam gespielt habe. Ich bin Amir.", stellt er sich mir vor und ich schüttle seine Hand. „Amélie, nett sie kennen zu lernen!", erwidere ich. Erfreut schaut er mich an: „Was für ein wunderschöner Name! Ich arbeite an dem Stück, Aladdin, was hier aufgeführt wird. Willst du dich auch beim Casting anmelden? Wir brauchen noch ein paar Tänzerinnen.", ich schaue ein wenig nervös zu Boden. „Eigentlich bin ich nicht so super im Tanzen.", erwidere ich ausweichend und versuche das Gespräch zu beenden. Doch Amir lässt nicht locker. „Mit so einer schönen Figur kann ja noch eine Tänzerin aus dir werden.", er betrachtet mich von oben bis unten und zwinkert mir charmant zu: „Hier ist die Karte meines Tanzclubs, wenn du möchtest kannst du dich uns gerne mal anschließen. Und ich würde mich sehr freuen vielleicht mal mit dir zusammen Essen zu gehen.", ich bin ein wenig überrascht über diese zwar nett gemeinte, doch leicht unverfrorene Anmache. Immerhin kennen wir uns ja erst seit ziemlich genau zwei Minuten. „Du, ich glaube nicht, dass du so viel Spaß an einem gemeinsamen Date mit mir und meiner Freundin hast.", erwidere ich deshalb diskret und hoffe, ihn nicht allzu sehr vor den Kopf gestoßen zu haben, da ich sein Angebot mit dem Tanzkurs eigentlich ziemlich interessant finde. Vielleicht komme ich so mal raus und finde ein Hobby. Doch Amir lacht nur lauthals los. „Oh Verzeihung, wie dumm von mir, ich hätte ahnen sollen, dass solch eine wunderschöne junge Lady bereits in festen Händen ist. Da folgt ja ein Fettnäpfchen dem anderen.", ich werde rot und streiche nervös meine kurzen blonden Haare hinter das Ohr. „Sorry?", erwidere ich verlegen. Mann, ist das mal wieder ein peinlicher Auftritt! Ich komme mit so viel männlichem Charme einfach nicht klar. Doch Amirs Gesicht ist noch immer von vielen kleinen Lachfalten durchzogen. „Wenn du willst, kannst du natürlich trotzdem mal reinschnuppern.", er deutet auf die Karte in meinen Händen, „und deine Liebste kannst du gerne mitbringen! Ruf mich einfach an! Und ich bestehe darauf, dass du dich auf die Castingliste für die Sänger setzten lässt, das bin ich dir schuldig!", verwundert hebe ich eine Augenbraue. Ich habe doch eigentlich gar nichts erwähnt von meinen früheren Gesangsabenteuern. Als könne er meine Gedanken lesen erwidert er schnell: „Du hast eine wunderschöne Stimme, ich habe mir fast gedacht, dass du schon Gesangserfahrung hast. Wir haben gerne junge Talente bei uns im Musical. Sie sind wie Rohdiamanten, die wir noch schleifen können und ich erkenne bei dir viel Potenzial." Ich nicke: „Einverstanden! Dann hören wir uns am Telefon wieder, ich frage Tea sobald sie wieder in New York ist ob sie auch mal mitkommen möchte." Erneut versuche ich das Gespräch zu beenden. Das scheint mir alles ein bisschen suspekt mit dem Gerede von Talent und „ich will dich in meiner Show". Wie ein schlechter Blockbuster, wo der reiche Regisseur junge Talente in schmuddeligen Hinterhöfen findet und von der Straße holt. In diesen Filmen wird einem vorgegaukelt, dass man einfach so ein Star wird, wenn man ein bisschen singen kann, um ohne Studium alle auszustechen. Ich bin doch gar keine Schauspielerin oder Sängerin und habe nicht mal eine Ausbildung in diese Richtung absolviert, was sollen die denn mit mir hier anstellen. Amir zieht eine Augenbraue hoch. „Oh, ist sie gar nicht hier? Willst du dann trotzdem etwas Essen gehen? Natürlich ganz ohne Hintergedanken!" Ich nicke. Scheinbar komme ich nicht um ein gemeinsames Dinner herum und mein Magen knurrt sowieso schon seit einer Stunde. „Gerne!", erwidere ich also höflich. Er bietet mir seinen Arm an, ich ignoriere diese Geste geflissentlich. Was bleibt mir anderes übrig, als mich mal darauf einzulassen? Ich habe noch immer die Hoffnung, dass an der amerikanischen Philosophie „Du kannst werden was du willst, egal was du für einen Abschluss hast" etwas dran ist. Und ein anderer Job als Bedienung für den Rest meines Lebens zu sein wäre schon reizvoll. Dann folge ich ihm in ein kleines mexikanisches Restaurant.

Trotz aller Skepsis wird es doch ein recht schöner Abend. Wir essen Tacos und Guacamole und unterhalten uns über sein Musical. Früher war Amir Schauspieler und Sänger am Broadway, sein Vater war im Besitz eines Theaters, das jedoch langsam den Bach herunterging. Als seine Großmutter im Iran schwer krank wurde, ging sein Vater zurück in die alte Heimat und Amir blieb mit seiner Mutter in Amerika. Jetzt versucht er sein Glück mit der Vermietung des Theaters und führt bald sein erstes Musical auf, da niemand das Theater mieten will. Der Cast wird komplett neu zusammengestellt und er ist nun verzweifelt auf der Suche nach authentischen Sängern und Tänzern. Er will keine Superstars in seiner Show, sondern neuen, jungen Künstlern auf die Beine helfen, die in den gleichen Schwierigkeiten stecken wie er damals. Dabei geht es natürlich auch ein wenig um die Gage, die er sich bei Leuten wie zum Beispiel Neil Patrick Harris gar nicht leisten könnte. Trotzdem glaubt er fest daran, dass das Musical mit talentierten, aufstrebenden Leuten aus der unteren Mittelschicht ein Erfolg wird. Die nächsten zwei Wochen wird er mit Castings verbringen und aus den mehreren Hundert Leuten, die sich bis jetzt schon eingetragen haben, 40 Stück für zwei Besetzungen auswählen und sie selber in Tanz und Gesang ausbilden. Das hört sich für mich nach ziemlich viel Arbeit an, doch Amirs Augen leuchten, als er mir erzählt, was für eine große Auswahl an Bewerbern er bis jetzt schon gefunden hat.

Später am Abend ist es endlich so weit: Tea kommt mit dem Jeep in New York an. Er ist bis oben beladen mit ihren Habseligkeiten. Als sie vor dem Haus parkt, stürme ich hinaus und falle ihr um den Hals. Auch sie ist froh über das Wiedersehen und gibt mir einen langen Kuss. In den letzten Tagen ist auch bei ihr nicht viel passiert und sie scheint ziemlich müde zu sein.

Wir sind gerade dabei, den Jeep zu entladen, als wir hinter uns Sirenen hören. Die Nacht wird plötzlich von Blaulicht erhellt und wir hören Reifen quietschen. Vier Streifenwagen fahren von allen Seiten auf uns zu. Ich blicke Tea an und sie zuckt mit den Achseln: „Keine Ahnung was los ist. Kommen die zu uns?" In diesem Moment umstellen die Polizeiautos uns auch schon und acht Polizisten des New York Police Department springen mit gezückten Pistolen heraus. Tea und ich werden gepackt und überwältigt. Meine Arme werden unangenehm nach hinten verdreht und ich höre Handschellen klicken. Das kalte Metall schneidet in meine Handgelenke ein. Was zur Hölle geht hier vor? „Tea Kanai van Kanoa, Amélie Zabeau, sie sind verhaftet. Alles was sie sagen kann vor Gericht gegen sie verwendet werden." Wir blicken uns an, mein Kopf ist in diesem Moment komplett leer, es kann sich alles nur um ein Missverständnis halten, und an Teas Miene kann ich erkennen, dass es ihr genauso geht. Der Officer drückt meinen Kopf nach unten und schiebt mich auf die Rückbank des Streifenwagens. Tea folgt einige Sekunden später. Mein Gesicht ist ein einziges Fragezeichen. Wir trauen uns auf der ganzen Fahrt nicht, auch nur ein Wort miteinander zu wechseln.

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