Ein etwas anderes Training

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Nachdem sich Hinata von seiner Schockstarre erholt hatte, begab er sich langsam in Richtung des Schulgeländes seiner "neuen" Schule. Spätestens jetzt war er sich sicher, dass ihm hier kein Streich gespielt wurde. Er zog kurz in Betracht, dass er vielleicht träumte doch den Gedanken verwarf er gleich wieder. Dafür fühlte sich alles viel zu real an und da es in seiner "Dimension" schon Nachmittag war und die Zeit normal schnell verging, mussten auch im normalen Leben schon mehrere Stunden vergangen sein. So lange träumte man doch normalerweise nicht, oder?

Vielleicht hatte Kindaichi wirklich recht und er hatte durch einen Unfall sein Gedächtnis verloren. Aber konnte man wirklich vergessen, an welche Schule man ging und mit welchen Leuten man befreundet war? An seine Zeit an der Karasuno konnte er sich doch auch bis ins kleinste Detail erinnern. Langsam bekam er vor lauter Nachdenken Kopfschmerzen. Dagegen half nur eins. Volleyball.

Anscheinend gehörte er jetzt wohl zur Mannschaft der Seijoh und würde mit Oikawa, Iwaizumi und all den anderen spielen. Bei dem Gedanke Oikawas Zuspiele anzunehmen machte sich eine angenehme Aufregung in ihm breit. Irgendwie war das schon cool. Er hatte den Kapitän der Seijoh insgeheim immer bewundert, aber die Ehre mit ihm auf der gleichen Seite des Spielfeldes zu stehen, war ihm noch nicht gebührt. Heute hatte er die Gelegenheit dazu. Ein wenig schlecht fühlte er sich bei dem Gedanke trotzdem. Sein Zuspieler war doch Kageyama. Aber exisitierte der überhaupt in dieser Welt, oder hatte er sich ihn nur ausgedacht? Immerhin hatten Suga und Daichi gemeint, sie würden ihn nicht kennen. War er nur eine Art Schattenfigur? Der Gedanke war gruselig...verdammt gruselig sogar! Nein, darüber würde er nicht nachdenken. Er wollte Volleyball spielen und sich einmal richtig verausgaben, egal mit wem und in welcher Mannschaft.

Als er die riesige Turnhalle der Seijoh betrat, wurde er gleich vom großen König persönlich empfangen.
"Da bist du ja! Kindaichi hat mir schon erzählt, dass es dir heute früh nicht gut ging. Ich bin ja ein netter Mensch, also verzeihe ich dir deine Verspätung.", begrüßte er ihn und lächelte süffisant. Hinata lächelte gezwungen zurück.
"Du bist der letzte, den man als "netten Menschen" bezeichnen sollte.", knurrte Iwaizumi hinter ihm und stöhnt genervt als Oikawa sich daraufhin mit einem langgezogenen "Iwa-chaaaan!", beschwerte. Als nächster trat Kindaichi an seine Seite, der einen Volleyball unter dem Arm trug und bereits reichlich verschwitzt war.
"Bist du wirklich sicher, dass du heute mitspielen kannst?", fragte er und sah schon wieder so schrecklich besorgt aus. Hinata nickte. Kindaichi war den ganzen Tag schon super nett zu ihm gewesen, da wollte er ihm nicht noch mehr Sorgen bereiten.

Nachdem sich Hinata allein umgezogen (natürlich in die blau-weiße Seijoh-Volleyball Uniform), aufgewärmt und gedehnt hatte, fuhr er fort mit Matsukawa Annahmen zu üben. Wie erwartet bekam er wieder die Hälfte von ihnen ins Gesicht, doch diesmal wurde er nicht angeschrien. Matsukawa, von dem er nun wusste, dass er wie Oikawa und Iwaizumi ebenfalls ein Drittklässler war, war eigentlich sehr entspannt und geduldig mit ihm. Er wollte vor ihm keinen schlechten Eindruck machen und tat diesmal wirklich sein bestes. Er bekam zwar nicht jeden Ball und der ein oder andere landete ihm immer noch auf der Nase, aber er hatte das Gefühl, sich langsam zu verbessern und das war auf jeden Fall ein Fortschritt. Als nächstes übten sie Aufschläge und er konnte sich von Oikawa, dem unbestrittenen Meister wenn es um Aufschläge ging, einiges abgucken, auch wenn er wohl nie einen Sprungaufschlag hinbekommen würde. Es war trotzdem jedes mal cool, dem großen Meister dabei zuzusehen. Ohne die kribblige Atmosphäre eines wichtigen Spiels, das Jubeln der Zuschauer auf den Rängen und die veränderte Perspektive sahen die Aufschläge nur halb so spektakulär aus, doch irgendwie machte das Oikawa menschlicher und nahbarer. Wie er selbst wohl für seine Gegner aussah?
"Vermutlich wie ein Grundschüler.", dachte er verbissen mit Rückblick an Daichis Kommentar.

"Hey, wie wäre es wenn wir ein paar Angriffe üben?", kam Oikawa nach einer kurzen Pause auf Hinata zu, dessen Miene sich sofort aufhellte. Endlich würde er das tun können, was ihm beim Volleyball am meisten Spaß machte. Er freute sich wieder springen zu können, das Gewicht des Balles unter seinen Handflächen zu spüren und zu hören, wie der Ball mit einem Knall auf dem Hallenboden aufschlug. Freudig sprang er in die Luft und konnte es kaum abwarten endlich Oikawas Bälle zu schlagen. Er streckte sich noch einmal und begab sich dann auf seine Position auf dem Spielfeld.
"Kannst du mir den Ball zuwerfen, damit ich ihn spielen kann?", fragte Oikawa einen der jüngeren, zierlichen Spieler (Kunima? Kunimeme? Er hatte glatt seinen Namen vergessen). Dieser sah zwar weniger begeistert aus, stimmte aber zu.
"Macht euch bereit.", murmelte er gelangweilt und warf Oikawa den Ball zu, der ihn hochspielte. Doch Hinata schaute gar nicht in seine Richtung sondern sprang sofort zum Netz und holt mit dem rechten Arm aus um den Ball übers Netz ins gegnerische Spielfeld zu feuern. Doch das nächste was er spürte, war eben dieses Netz in seinem Gesicht, in dem er sich mit dem ganzen Körper verfangen hatte. Er hörte ein paar Spieler hinter sich kichern und spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. So peinlich, und das bei seinem "ersten" Training mit der Seijoh!

"Alles in Ordnung, Chibi-chan?", fragte ihn Oikawa, der auf ihn zukam und den Versuch tätigte, ihn aus dem Netz zu befreien. Hinata schaffte das zum Glück auch von alleine und verbeugte sich entschuldigend vor ihrem Kapitän.
"Tut mir Leid, Oikawa-san, beim nächsten mal passe ich besser auf.", versprach er.
"Du hattest die Augen zu. Kein Wunder, dass du ihn nicht gekriegt hast.", meinte Oikawa verständnisvoll und zeigte seinem Mitspieler an, ihm noch mehr Bälle zuzuwerfen. Ja, er hatte tatsächlich die Augen geschlossen gehabt und das so gut wie instinktiv. So hatte er immer mit Kageyama gespielt, wenn sie ihren Schnellangriff durchgezogen hatten, von dem all ihre Gegner immer total verblüfft waren. Er hatte aus reiner Gewohnheit auch diesmal die Augen geschlossen gehabt, auch wenn Oikawa nicht Kageyama war und er sich nicht sicher war, ob Oikawa überhaupt in der Lage war den Ball so präzise zu spielen, wie Kageyama es konnte. Kageyama...jetzt war er mitten im Volleyballtraining und dachte schon wieder an ihn.

"Hey, nicht träumen!", ermahnte Oikawa ihn und er schreckte aus seinen Gedanken. Sofort war er wieder im Hier und Jetzt.
"Ich werde dir den Ball diesmal etwas langsamer zuspielen, aber diesmal bitte hinschauen, ja?", erklärte er und lächelte wieder. Hinata nickte und ging zurück auf seine Position. Diesmal würde er versuchen den Ball bewusst zu spielen. Er konnte sich daran erinnern, dass er diese Art des Angriffs schon ein paar mal mit Sugawara geübt hatte.
Die ersten Bälle gingen natürlich daneben aber Oikawa war geduldig und spielte ihm immer mehr Bälle zu, bis es endlich funktionierte und Hinata den Ball an seinem höchsten Punkt in der Luft traf und erfolgreich auf die andere Seite schmetterte. Euphorisch sprang er in die Luft und schlug mit Oikawa ab, der sich sichtlich für ihn freute.
"Das mit dem Timing müssen wir noch üben, aber deine Sprungkraft ist beeindruckend. Wenn du dich anstrengst, wirst du diesmal auch beim Inter High mitspielen können.", meinte Oikawa und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Hinata fühlte, wie sich sein Herz mit Stolz füllte. Oikawa hatte ihn soeben gelobt. Doch dann ließ er sich den letzten Satz durch den Kopf gehen und Nervosität stellte sich ein. Das Inter High! Das große Turnier, an dem er zusammen mit Kageyama und dem Rest der Karasuno Mannschaft teilnehmen wollte. Er würde jetzt an dem gleichen Turnier mit dem Seijoh-Team teilnehmen. Mit Oikawa, Iwaizuimi, Kindaichi und all den anderen, deren Namen er sich nicht merken konnte.
"Spielen wir dann auch gegen die Karasuno?", fragte Hinata gespannt, doch Oikawa zuckte nur mit den Schultern.
"Kann sein. Ich glaube aber kaum, dass sie es durch die Vorrunde schaffen.", meinte er und rief den Rest der Mannschaft zu einem kleinen Testspiel zusammen, als hätte er etwas ganz Selbstverständliches gesagt.

"Die Karasuno wird es schaffen!", widersprach Hinata trotzdem, da es ihn es störte, wie Oikawa "sein" Team einfach als Verlierermannschaft abtat, "Wir werden bestimmt im Halbfinale oder im Finale gegen sie spielen!" Oikawa lachte trocken auf und wackelte mit dem Zeigerfinger vor seinem Gesicht herum.
"Die Karasuno hat uns erstmal gar nicht zu interessieren, Chibi-chan.", säuselte er, "Unser Gegner ist die Shiratorizawa. Ich kann es nämlich kaum erwarten, diesen Ushiwaka vor all seinen Fans so richtig schön zu blamieren." Seinen Satz beendete er mit einem kindischen Lachen woraufhin Iwaizumi wütend zu ihm stapfte, ihn darüber belehrte, sich vor den Erstklässlern nicht so albern aufzuführen und schließlich am Trikotkragen von Hinata wegzerrte. Ein paar "Iwa-chans" später standen sie sich tatsächlich in einem Trainingsspiel 3 gegen 3 gegenüber. Er spielte mit Oikawa und Kindaichi in einem Team. Das Spiel verlief soweit gut, er schaffte es diesmal sogar ein paar Bälle nicht mit dem Gesicht anzunehmen und dadurch, dass Oikawa ihm die Bälle nun langsamer aber nicht weniger präzise zuspielte, gelangen ihm auch ein paar Punkte. Es war natürlich nicht das gleiche, wie mit Kageyama seinen Freak-Schnellangriff zu üben, aber wenigstens wurde er nicht dauernd angeschrien.

Nachdem sie ihr kleines Trainingsspiel beendet und tsatsächlich sogar gewonnen hatten, mussten sie natürlich noch die Sporthalle aufräumen. Hinata war gerade dabei zusammen mit Kindaichi das Netz abzuwickeln, als Yahaba, ihr zweiter Zuspieler, auf ihn zukam.
"Ihr habt euch heute bei 3 gegen 3 wirklich gut geschlagen. Wenn es dir recht ist, würde ich dir gerne beim nächsten Training die Bälle zuspielen.", sagte er im ruhigen Ton und sah Hinata erwartungsvoll an.
"Das würde mich freuen, Yahaba-senpai!", strahlte Hinata ihn an und war äußerst erfreut über die positive Aufmerksamkeit, die er von seinen Teamkameraden bekam.
"Du musst mich nicht "senpai" nennen.", erwiderte dieser verlegen und machte sich daran, die restlichen Volleybälle vom Hallenboden aufzuheben, "Ich bin wie du auch nur Ersatzspieler, aber ich will lernen jedem Angreifer die Bälle zuzuspielen um irgendwann ein würdiger Ersatz für Oikawa zu sein." Hinata schluckte. So eine tiefsinnige Antwort hatte er gar nicht erwartet, aber er konnte ihn auch verstehen. Oikawa war ein grandioser Zuspieler und seine Rolle als Kapitän zu übernehmen, war sicher keine leichte Aufgabe. Sofort musste er an Ennoshita denken, der Daichis Rolle als Kapitän im nächsten Jahr übernehmen sollte und sich in der gleichen Lage befand.

Nachdem die Spieler fertig mit Aufräumen und Umziehen waren, verabschiedeten sie sich voneinander und jeder ging seiner Wege. Hinata, dessen Fahrrad ja immer noch bei seinem Onkel in der Werkstatt war, musste notgedrungen mit Kindaichi mitgehen. Schlimm war das für ihn nicht. Der großgewachsene Mittelblocker oder "Schalottenkopf", wie er ihn früher immer genannt hatte, war eigentlich wirklich ein netter Kerl. Auch wenn er ihn so gar nicht in Erinnerung hatte. Trotzdem freute er sich darauf, wieder seinen Schulweg wie gewohnt mit dem Fahrrad anzutreten. Auch wenn er jetzt einen anderen Weg fahren musste.
"Du, Hinata?", fragte Kindaichi ihn, als sie zusammen zu der Straße liefen, an der Kindaichis Vater sie abholen wollte. Hinata wusste schon worauf er hinauswollte bevor er überhaupt ein Wort gesagt hatte.
"Wegen heute früh...was war denn da eigentlich los? Ich hab mir echt Sorgen gemacht.", meinte er. "Musst du nicht.", erwiderte Hinata mit einem aufgesetzten Lächeln, "Ich war wohl einfach nur etwas durcheinander. Passiert jedem mal." Er fühlte sich nicht gut dabei, Kindaichi derart ins Gesicht zu lügen, doch so konnte er ihm wenigstens eine befriedigendere Antwort geben als: "Ich weiß es doch selbst nicht."
Kindaichi hob skeptisch eine Augenbraue, akzeptierte seine Antwort jedoch ohne Murren. Zumindest stellte er keine Nachfragen. Konnte Hinata auch recht sein.

Die Fahrt zurück verlief ohne weitere Vorkommnisse. Kindaichis Vater schien das Drama am Morgen schon wieder vergesssen zu haben und nahm es Hinata demnach auch nicht übel. Nach der üblichen Fahrtzeit setzten sie Hinata schließlich an seiner Straße ab.
"Bis morgen dann in der Schule!", rief Kindaichi ihm winkend zu und Hinata winkte pflichtbewusst zurück. Als das schwarze Auto entgültig im Nebel verschwand und Hinata allein zurückblieb, spürte er, wie ihm plötzlich flau im Magen wurde, so als müsste er sich gleich übergeben. Er schob es auf die Autofahrt und begab sich nach Hause zu seiner Familie.

Als er durch die Haustür kam, wurde er gleich von Natsu im Schlafanzug überfallen, die sich an ihn klammerte und sofort damit anfing ihn zu seinen Erlebnissen auszufragen.
"Und, wie war das Training mit dem Neuen? Ist er gut? Magst du ihn? Hast du ihm schon nen Ball an den Kopf gehauen? Du musst mir alles erzählen!" plapperte sie los und Hinata hatte alle Mühe noch mitzukommen. Es dauerte eine Weile, bis er realisierte, dass sie Kageyama meinte.
"Ich muss dich enttäuschen. Ich hab heute mit Oikawa gespielt. Wir haben Angriffe geübt. Und dann war da noch...", "Hab ichs doch gewusst! Du spielst immer mit Oikawa!", rief sie ihm dazwischen und sprang wild durch den Flur, als hätte sie für diese Erkenntnis einen Preis gewonnen.
"Natsu Schätzchen, lass deinen Bruder doch erst einmal ankommen.", rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer, was das kleine Mädchen aber nicht davon abhielt, weiterhin wie angestochen durchs Haus zu hopsen. Hinata war das schon gewöhnt und eigentlich hätte er sich jetzt noch eine Weile mit ihr beschäftigt, doch das flaue Gefühl hatte leider immer noch nicht nachgelassen. Er würde wohl auch heute wieder früh schlafen gehen. Irgendwie fühlte er sich erschöpfter als sonst. Dabei war das Training gar nicht so anstrengend gewesen und er hatte sich obendrein auch noch chauffieren lassen. Das Volleyballtraining hatte ihn in Extase versetzt, ihn ein Stück weit vergessen lassen, in welch verquerer Situation er sich eigentlich befand. Jetzt wo er wieder zu Hause war und Natsu ihn netterweise auf den "Neuen" hingewiesen hatte, kamen all die Erinnerungen wieder zurück und überschwemmten ihn regelrecht.

"Tut mir Leid, Natsu aber ich bin ganz schön kaputt. Ich geh heute früher ins Bett. Morgen spielen wir was zusammen, wenn ich heimkomm.", versprach er seiner Schwester, die gerade den Versuch tätigte, ihn am Ärmel in ihr Zimmer zu schleifen.
"So früh schon? Langweilig.", maulte sie, ließ dann aber doch von ihm ab und lief zurück ins Wohnzimmer, in dem der Fernseher lief. Eigentlich hätte sie schon längst im Bett sein sollen, aber so hyperaktiv wie sie gerade war, würde das wohl noch eine Weile dauern. Wenn Hinata seiner Mutter Glauben schenkte, war er als Kind nicht anders gewesen.
Als Hinata an diesem Abend ins Bett ging, grübelte er nicht mehr, sondern fiel sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf.


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