Erinnerungen

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Als Hinata am nächsten Tag aufwachte hatte er einen Moment die Hoffnung, dass sich alles wieder zum Normalen gewendet hätte und die ganze Seijoh-Geschichte tatsächlich nur ein verrückter Traum war, doch ein einziger Blick auf die Schuluniform auf seinem Nachtschrank verriet ihm, dass er sich die Idee aus dem Kopf schlagen konnte. Nach dem Frühstück begab er sich, diesmal mit dem reparierten Fahrrad, auf den Weg zur Schule.

Er genoss es, wie der kühle Wind durch seine Haare fuhr und ihm das Gefühl gab, lebendig zu sein und seine Laune besserte sich merklich. Doch dann fiel ihm auf halben Wege ein, dass er ja jetzt an die Aobajōsai ging und nicht seine gewohnte Strecke fahren konnte. So ein Mist aber auch! Jetzt musste er beim Fahren doch seinen Kopf einschalten, sonst würde er sonstwo landen und am Ende wieder zu spät kommen. Entgegen seiner Erwartungen schaffte er es jedoch tatsächlich, allein den Weg zur Schule zu finden. Aufgrund der auffälligen Schilder, die überall standen, war das aber auch keine große Leistung.

Der Schultag verlief ähnlich wie der gestrige. Hinata hatte das Gefühl, dass sich der Schulplan der Aobajōsai nicht wesentlich von dem der Karasuno unterschied, auch wenn es sich bei ersterer um eine Privatschule handelte. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass er an beiden Schulen in den meisten Fächern kein Wort verstand.

So verbrachte er den Großteil des Unterrichts damit über seine "Vergangenheit" an der Karasuno nachzudenken. Er war sich nun relativ sicher, dass er nicht verrückt war und sich die Erinnerungen an sein "altes" Team nicht ausgedacht oder eingebildet hatte. Er konnte immer noch die Stimmen seiner Mitspieler hören, wenn er an sie dachte.

Er dachte an Tanaka, der ihn und Kageyama unterstützt hatte, nachdem sie für ihre Streitereien aus der Sporthalle geschmissen wurden. Er dachte an Asahi, dessen Fähigkeiten und Präsenz auf dem Platz er so bewunderte und an Nishinoya, der immer da war, um das Team zu motivieren wenn sie von ihren Gegnern an die Wand gespielt wurden. Er dachte auch an Daichi und Sugawara, die das Team zusammenhielten, an Tsukishima, Yamaguchi, Ennoshita und all die anderen, die Karasuno ausmachten. Und vor allem dachte er an Kageyama, seinen Partner, mit dem er den Freak-Schnellangriff perfektioniert hatte, der ihm erst die Chance gegeben hatte als Stammspieler auf dem Platz zu stehen. Dessen Zuspiele so genau und so präzise waren, dass er ihnen blind vertrauen konnte. Sein Freund mit dem er sich herrlich zanken und raufen konnte, der ihn immer wieder an seine Grenzen brachte und zu Höchstleistungen anspornte. Er vermisste das. Er vermisste das Karasuno Team aber am meisten vermisste er Kageyama. Auch wenn es ihm nicht leicht fiel, sich das einzugestehen.

Das Training mit der Seijoh hatte Spaß gemacht, keine Frage. Dennoch hatten sie ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er eben nur Ersatzspieler war und Glück haben musste, um überhaupt beim Inter High eingesetzt zu werden. Natürlich sagte ihm das keiner so ins Gesicht, aber Oikawa und Iwaizumi waren einfach eindeutig das bessere Duo. Kein Wunder, sie hatten beide erstaunliche Fähigkeiten und viel mehr Erfahrung als alle jüngeren Spieler im Team. Zudem klebten sie regelrecht aneinander und verstanden sich zumindest auf dem Platz blendend.
Da würde er als unerfahrener und ungeschickter Erstklässler nicht gegen anstinken können. Er war Ersatzspieler und basta. Vielleicht würde sich das ändern, wenn die Drittklässler das Team im nächsten Jahr verließen, aber wollte er im Moment wirklich so weit in die Zukunft denken? Während er selbst noch in Gedanken bei seiner Karasuno war?

Es frustrierte ihn am meisten, dass er keinen hatte, mit dem er über seine Probleme reden konnte. Er wusste ja selbst nicht, was mit ihm los war. Die meisten würden ihm wohl versichern, dass seine Erinnerungen an die Karasuno nur Hirngespinste wären, die er sich aus dem Kopf schlagen sollte. Vielleicht wäre das auch das beste. Aber gleichzeitig wollte er sie nicht vergessen. Er hatte das Gefühl, dass mit den Erinnerungen an sein altes Leben auch ein großer Teil von ihm sterben würde. Wie ging man mit so einer Situation überhaupt um? Es war, als wäre seine ganze Welt von heute auf morgen aus den Fugen geraten.

"Du bist heute die ganze Zeit nur am Seufzen.", bermerkte Kindaichi, mit dem er zur obligatorischen Mittagspause zusammensaß und sein Bento aß bzw. darin herumstocherte.
"Du weißt...", sagte er und schob sich ein Sück frittiertes Hähnchen in den Mund, "...dass du mit mir über alles reden kannst." Hinata war sich nicht sicher, ob er es konnte. Aber ein Versuch konnte doch nicht schaden, oder?
"Kennst du das, wenn sich plötzlich alles um dich herum verändert was dir mal wichtig war und du nicht weißt, was eigentlich passiert ist?", fing er an und ein Blick in Kindaichis Gesicht genügte, um zu wissen, dass die Antwort darauf wohl "nein" war.

"Ich weiß nicht wovon du redest. Kannst du das vielleicht etwas genauer ausdrücken?", meinte dieser und fuhr damit fort, sein Essen in sich reinzuschaufeln. Immerhin war ihre Pause gleich um, da mussten sie sich mit dem Essen beeilen.
"Naja, wenn alle Leute, mit denen du früher befreundet warst, plötzlich so tun als würden sie dich nicht kennen. Wenn die Leute, mit denen du Volleyball gespielst hast, nicht mehr dieselben sind. Wenn du dir nicht mehr sicher sein kannst, was noch echt und was nicht echt ist.", meinte Hinata und schob sein halbvolles Bento von sich weg. Er hatte keinen Hunger. Wirklich nicht.
"Ich kann dir zwar nicht ganz folgen.", sagte Kindaichi, "Aber ich denke das Gefühl kennt jeder." "Wirklich?", fragte Hinata erstaunt und sah seinen Klassenkamerad erwartungsvoll an. "Ja, das nennt man erwachsen werden.", meinte dieser. Hinata antwortete mit einem weiteren Seufzen. Kindaichi hatte ihn schon wieder missverstanden.
"Dinge verändern sich und Menschen verändern sich auch. Das gehört zum Leben dazu. Ich musste das auch schon oft auf die harte Tour lernen.", fuhr Kindaichi unbeeindruckt fort. Insgeheim hatte er ja recht. Aber doch nicht so plötzlich und ohne jede Erklärung!

"Wir sind beide noch jung und haben unser Leben vor uns. Was bringt es uns denn, nur in der Vergangenheit zu leben?", fragte er und packte den Rest seines Bentos wieder in seine Tasche. Hinata tat es ihm gleich und dachte über seine Worte nach, während sie sich auf den Weg zurück zu ihrem Klassenraum begaben. Er hatte nicht Unrecht. Egal wie sehr er sich die Vergangenheit zurückwünschte, er würde sie nicht zurückbekommen. Auch wenn sie ihm auf völlig absurde Art und Weise entrissen wurde. Wenn er sich wirklich noch in der realen Welt befand, würde er sich nur selbst verletzten, wenn er ständig an die Karasuno oder an Kageyama dachte. Vielleicht hatte er sich die ganze Sache tatsächlich nur eingebildet und hielt sich jetzt nur noch eine Illusion aufrecht. Aber was wenn nicht?

Als es zum Stundenende klingelte und alle Schüler ihre Sachen packten, um sich entweder auf den Heimweg oder zum Ort ihre Clubaktivitäten zu begeben, hatte Hinata einen Schluss gefasst. Er würde nicht mehr an die Karasuno denken. Solange er für die Seijoh spielen konnte, würde er auch für die Seijoh spielen. Er wollte Volleyball spielen, das Inter High gewinnen und irgendwann an den Nationalmeisterschaften teilnehmen. Das war sein Traum und dabei würde ihm keiner im Weg stehen. Nicht einmal er selbst.

Mit diesem Beschluss ging er auch an diesem Tag ins Training. Er sprang, er rannte, er schlug jeden Ball, den Oikawa oder Yahaba ihm zuspielten. Er gab auch beim Annahmetraining alles, warf sich jedem Ball entgegen und übte Aufschläge, bis er kein Gefühl mehr in den Händen hatte. Es fühlte sich gut an sich so zu verausgaben, alles zu geben und sich ganz seiner Leidenschaft zu unterwerfen. Wann immer ihm die Worte eines Mitspielers oder ein Vorfall während eines Trainingsspiels an die Karasuno erinnerten, zwang er sich dazu, einfach noch härter zu trainieren. Er würde sich nicht unterkriegen lassen. Er würde an den Nationalmeisterschaften teilnehmen, koste es was es wolle. Er würde jeden Gegner besiegen und jedes Spiel gewinnen, er würde der neue kleine Gigant werden. Dazu brauchte er Kageyama nicht. Er würde es aus eigener Kraft schaffen.

"Gute Arbeit, Chibi-chan!", lobte Oikawa ihn nach einem besonders harten Trainingsspiel, bei dem jeder von ihnen aufs Ganze gegangen war. Er hatte darauf bestanden, die ganze Zeit über mitzuspielen und sich nicht auswechseln zu lassen mit der Begründung, dass er noch zu viele Schwächen hätte, an denen er bis zum Turnier arbeiten müsse. Ihr Trainer hatte es ihm erlaubt und jetzt saß er wie der Rest der Mannschaft auf dem Boden, nur mit dem Unterschied, dass er es nicht aus Bequemlichkeit tat, sondern weil er buchstäblich seine Beine nicht mehr bewegen konnte.
"Dein Ehrgeiz in allen Ehren, aber meinst du nicht, dass du es ein wenig übertreibst?", fragte Kunimi, der zufällig neben ihm saß bzw. lag und auch ziemlich außer Atem war.
"Hinata arbeitet sehr hart an sich. Der ein oder andere von euch könnte sich ein Beispiel an ihm nehmen.", sagte Oikawa und wurde daraufhin von Iwaizumi, der neben ihm saß, in die Schulter geboxt.
"Du bist auch so einer, der nie weiß, wann Schluss ist.", knurrte er, doch sein Freund ließ sich nicht beirren.
"Das Inter High steht vor der Tür. Da müssen wir alle in Topform sein.", "Du Idiot, wenn wir uns schon vor dem Turnier die Knochen brechen, haben wir gar keine Chance zu gewinnen.", "Aber Iwa-chan...", "Du willst doch gegen Ushiwaka gewinnen und dessen Team kommt ganz sicher wieder ins Finale. Im Finale werden fünf Sätze gespielt, falls du's vergessen hast.", "Deswegen müssen wir vorbereitet sein.", "Du verstehst echt überhaupt nichts, Assikawa.", "Gemein, Iwa-chan!"

Der Rest der Mannschaft sah ihrem Kapitän und Vize-Kapitän schweigend dabei zu, wie sie sich stritten und Hinata versuchte mit aller Macht die Erinnerungen an Kageyama zu verdrängen, die plötzlich wieder in ihm hochquollen. Er wollte nicht an ihn denken, er wollte sich auf das Turnier konzentrieren.
Nachdem Oikawa und Iwaizumi ihre kleine Meinungsverschiedenheit mehr oder weniger geklärt hatten, beendete ihr Kapitän das Training mit reichlich Verspätung. Hinata kam auf wackeligen Beinen zum Stehen und musste sich an Kindaichi abstützen, um es bis zum Clubraum zu schaffen, ohne umzukippen. Die Zweitklässler waren heute für die Halle zuständig, also blieb ihm zumindest das Aufräumen erspart. Nachdem er sich ein paar Minuten auf der Bank im Clubraum ausgeruht hatte, fühlte er sich bereit dazu, den Heimweg anzutreten. Er hoffte inständig, dass er sich vor dem Training ausreichend aufgewärmt hatte und er nicht am nächsten Morgen mit mörderischem Muskelkater aufwachen würde. An solchen Tagen verfluchte er es, dass sein Zuhause hinter einem Berg lag. Mit letzter Kraft schaffte er es dennoch sich nach Hause zu schleppen.

Natsu empfing ihn wie immer an der Tür und erinnerte ihn natürlich sofort an sein Versprechen. Da er viel zu erledigt zum Seilspringen oder Fußball spielen war (was seine Mutter um die Zeit sowieso nicht mehr erlaubt hätte), einigten sie sich darauf ein paar Runden Kai-awase, eine Art Memory, zu spielen. Nachdem Natsu ihn in fast allen Runden abgezogen hatte, wurde ihm bewusst, dass der Tag für ihn auch mental sehr anstrengend gewesen war.
"Du bist ganz schön schlecht, Brüderchen.", sagte die Kleine frech grinsend, als sie zum x-ten mal alle richtigen Bilder hintereinander aufdeckte.

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