I: Routine

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Das Geräusch des Weckers riss sie aus dem Schlaf. Sie schlug die Augen auf, bevor sie den penetranten Lärm ausschaltete. Langsam, sehr langsam stemmte Karina ihren Oberkörper aus dem Bett und stöhnte gepresst, bevor sie ihren Blick aus dem Fenster richtete. Ein leichter Nieselregen überzog das Fensterglas mit einer feinen, grauen Schicht. Karina seufzte und schwang ihre Beine aus dem Bett. Normalerweise war sie ein Morgenmensch, aber die Zeitumstellung nagte noch immer an ihrem Biorhythmus. Barfuß tappste sie durch die Wohnung, bewegte sich über den kühlen, gefliesten Boden in Richtung ihrer Badezimmertür. Als sie sich die Zähne putzte, musste sie erneut feststellen, wie bedrückend sie das graue Wetter dieser Stadt fand. Ihre Mutter hatte recht gehabt, Ohio war definitiv etwas anderes als Großbritannien. Als Abschluss ihrer Morgenroutine steckte sie ihre langen, honigblonden Haare zu einem Dutt zusammen. Die Frisur bestand ihre Prüfung im Spiegel. Mit Elan verließ Karina zuerst ihr Badezimmer, dann ihre Zweiraumwohnung.

Ihr Weg zur Polizeidienststelle war nicht lang, weshalb sie weder Fahrrad noch Auto benötigte. Am Ziel ihrer täglichen Morgenwanderung angekommen, klappte sie ihren Regenschirm zusammen und stellte ihn zu den vielen anderen, die sauber aufgereiht neben der Eingangstür des Präsidiums lehnten. Zielstrebig ging sie, nebenbei den Kollegen der Streifenpolizei grüßend zunickend, auf eine altmodische Holztür zu.
"Ah, wunderschönen guten Morgen, Karina" kam ihr die dunkle Bassstimme ihres Vorgesetzten entgegen, als sie die Tür öffnete, die ins Reich der Kriminalpolizei führte.
Der hohe Raum war mit geradezu übertrieben großen Fenstern versehen. Karina's neuer Arbeitsplatz war zwar im zweiten Stock gelegen, dennoch hatte sie immer das Gefühl, als könnten die unten vorbeilaufenden Passanten sie und ihre Kollegen beobachten. Im übrigen waren diese Fenster von einer geradezu ironischen Sinnlosigkeit geprägt. Sie sollten dem Raum wohl ein offenes, helles Bild verleihen, allerdings lehnten sich Nebel und Regen mit einer beängstigender Zielstrebigkeit gegen diese Idee. Entweder war der Innenarchitekt ein unbelehrbarer Optimist mit Hang zum Größenwahn, oder er hatte noch nie mehr als drei Tage in Woodhaven verbracht. Karina lebte bereits seit drei Wochen in dieser Hafenstadt und hatte erst an zwei Tagen die Sonne durchscheinen sehen.
Bei dem Gedanken an ihre Heimat musste sie seufzen. Um diese Jahreszeit hätte sie wahrscheinlich ein ganzes Batallion an Ventilatoren benötigt, um sich abzukühlen, aber mittlerweile war ihr alles lieber, als dieses ewige Regenwetter.
Sie ließ sich in ihren Drehstuhl fallen und sah ihren Kollegen erwartungsvoll an.
"Und? Hat sich was neues herausgestellt? Neue Hinweise? Tatverdächtige? Irgendwas?"
Der Mann, der den Schreibtisch gegenüber Karina belegte, schnaubte etwas zögerlich und nickte dann.
"Es gibt etwas neues...aber...nun, es sind weder Hinweiße noch Tatverdächtige."
Die Polizistin Biss sich auf die Lippe und unterdrückte ein enttäuschtes Stöhnen. Kein Hinweis. Keine Spur. Das bedeutete-
"Eine Leiche. Wir haben schon wieder eine Leiche."
Der Mann nickte nur bedrückt und reichte ihr eine Akte.
"Ja. Er wurde in den frühen Morgenstunden gefunden, in einer Seitenstraße. Die Spurensicherung war bereits da, der Tatort ist abgesichert und die Leiche ist gerade in der Pathologie, bisher aber ohne Ergebnisse. Das Übliche, Todesursache war entweder schwerer Blutverlust oder ein schweres Schädel-Hirn Trauma..."
Er machte eine kurze Pause, räusperte sich, bevor er fortfuhr.
".... allerdings ist die Leiche zu sehr zugerichtet, um genaueres zu bestimmen, auch der Regen hat sein Übrigens getan. Der Todeszeitpunkt wurde von Morris auf Zehn Uhr Abends bis Vier Uhr Morgens festgelegt."
Während er die Umstände zusammenfasste, blätterte Karina in der dreiseitigen Akten. Die Informationen waren wenig aufschlussreich, eher trugen sie noch mehr zur allgemeinen Verwirrung bei. Eine bislang unidentifizierte Leiche männlichen Geschlechts, wahrscheinlich handelte es sich hierbei um einen Obdachlosen, wurde gegen Fünf in einer Seitenstraße der Fisher street gefunden, der Körper von mehreren Wunden entstellt, darunter auch mögliche Bissspuren. Sie knirschte mit den Zähnen und legte den braunen Ordner auf einen Stapel.
Dann sah sie ihren Kollegen durchdringend an.
"Verdammt, James, das ist bereits der Fünfte. Wir haben Fünf verstümmelte Leichen in drei Wochen, dazu weder einen Täter noch irgendwelche Spuren. Es wurden noch nicht mal Fingerabdrücke an den Opfern gefunden. Gottverdammt, wir sind hier in einer Kleinstadt, nicht in New York oder London!"
Sie lehnte sich zurück und blickte zerknirscht auf den Aktenstapel.
"Ganz zu schweigen von den Fällen der vergangenen Zeit. Wie kann es sein, dass hier ein Serienmörder sein Unwesen Treibt und das schon seit mehreren Jahren?"
James Fraud, leitender Ermittler der Kriminalpolizei Woodhaven, schwang seinen massigen Körper aus dem Ledersessel seines Schreibtisches.
"Ich weiß es nicht, Karina. Ich habe wirklich keine Ahnung. Ich arbeite bereits länger an diesem Fall als sie, und glauben sie mir, ich möchte diesen Bastard genau so gerne festnehmen wie sie."
Sie beruhigte sich ein wenig. Natürlich wusste sie, dass James fieberhaft an dem Fall arbeitete. Für einen Moment fühlte sie sich schlecht, als hätte sie ihm persönlich die Schuld dafür gegeben, dass der Täter noch immer auf freiem Fuß war.
James watschelte in seiner schwerfälligen Art zu dem Kleiderständer, der neben der hölzernen Tür stand und schlang seinen braunen Trenchcoat fest um den voluminösen Leib.
Sie zog eine Augenbraue hoch. Er sah sie erwartungsvoll an.
"Na worauf warten sie noch? Wir haben einen Tatort zu besichtigen."

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