Aus einem vertraulichen Gespräch mit Lina's Mutter Laura weiß ich, dass Lina nicht immer so aufgeschlossen und energiegeladen war wie ich sie kenne und schätze.
In der Zeit vor dem Umzug, fing Laura an sich Sorgen zu machen. Ihre Tochter zog sich immer weiter zurück. Zunächst nahm Sie an es würde mit ihrer Krankheit und der Pubertät zusammenhängen, als sie dann aber Symptome einer Depression zeigte war sie ernsthaft besorgt.
Eines Tages ging sie ins Zimmer ihrer Tochter und suchte nach etwas, was ihr zumindest einen kleinen Anhaltspunkt für Lina's seelischen Zustand geben könnte. In einer Schreibtischschublade fand sie einen dicken Ordner. Darin befanden sich alle möglichen Informationen zu ihrer Krankheit. Sie hatte alle Interneteinträge, alle Webartikel gelesen, in einem Internetforum hatte sie mit Ärzten über alle Einzelheiten gesprochen. Am Ende fand sich eine zweiseitige selbstgeschriebene Zusammenfassung. Lina hatte alle Einzelheiten ihrer Krankheit zusammengetragen. Sie hatte sich ein ganz genaues Bild gemacht und kannte den vollen und ganzen Umfang.
Laura heftete alles aus und warf es weg. Anschließend nahm sie einen Zettel, heftete ein Schokoherz dran und schrieb ein Gedicht darauf, welches ihre Mutter ihr immer erzählt hatte, wenn sie traurig gewesen war.
Am Abend hörte sie ihre Tochter weinen. Sie sah nach und sah sie mit dem Gedicht auf dem Bett sitzen. Das Gedicht hatte sie buchstäblich zu Tränen gerührt. Lina versprach Laura sich nicht mehr zu verstecken und versuchen ein wenig Anschluss an das Leben zu bekommen.
In den nächsten Tagen besserte sich der seelische Zustand Lina's rapide. Sie wurde wieder ein wenig fröhlicher und aufgeschlossener. In der Schule war es allerdings immer noch schwer Fuß zu fassen denn die anderen Schüler akzeptierten sie immer noch nicht so richtig als ein vollwertiges Mitglied ihrer Klassengemeinschaft.
Nach dem Abitur war Lina kurz davor, vor Erleichterung in Tränen auszubrechen. Sie hatte endlich die Schule hinter sich gebracht und konnte diese nun endlich verlassen.
Dies veranlasste Laura zu einer weitreichenden Entscheidung. Sie ging zu ihrem Chef und ließ sich in die Zweigstelle der Techniker-Krankenkasse München versetzen. Sie fand ein Tapetenwechsel täte ihr und ihrer Tochter sicher sehr gut. Außerdem fand sich in München eine gute Universität um Medizin zu studieren, was Lina vorhatte. So gelangten sie in die Wohnung gegenüber uns.
Laura erzählte Lina sei nach diesem Umzug regelrecht aufgeblüht. Nach dem sie uns kennenlernte, verbrachte sie viel mehr Zeit mit uns. Sie war öfter draußen und am wichtigsten, sie hatte sich zu jemandem entwickelt, die sich mit seiner Krankheit zurechtfindet und sich nicht unterkriegen lässt.
Mir persönlich war das nie groß aufgefallen. Ich kannte sie immer nur als solche, wie ich sie beschrieben habe. Da sich einige Kurse von Lina und mir überschneiden, Psychologie und Medizin liegen schließlich dicht beieinander, habe ich ein wenig Zeit sie ein wenig zu beobachten. Nicht das ich sie die ganze Zeit anstarren würde. Ich schaue ab und zu zu ihr und versuche ihren Gesichtsausdruck zu lesen. Ich habe bisher keine einzige Spur von Depression, Trauer, Schmerz oder ähnlichem gefunden. Sie schien sich komplett gewandelt zu haben.
Diese Geschichte von Laura hatte ich damals aufgeschrieben und verwahre sie in einer Schublade auf. Mir ist sehr gut bewusst, wie sehr Laura mir vertrauen muss, dass sie mir diese persönliche Geschichte erzählte. Niemandem habe ich es bisher erzählt. Nicht einmal Jonas.
Allerdings ist mir nicht ganz klar, warum ich die Geschichte aufgeschrieben habe. Vielleicht weil ich sie sehr bewegend finde und sie eine gute Vorlage zum Üben für das Studium gibt, vielleicht aber auch weil es eine Geschichte ist die das Leben geschrieben hat. Etwas was mir fehlt.
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Long Way
Non-FictionStudent sein. Das ist hart. Wenig Geld, viel zu lernen und natürlich viel zu wenig Zeit. Jan, Jonas und Lina kennen das nur zu Gut, doch dieser eine Tag wird ihr ganzes Leben umkrempeln. Alles steht plötzlich Kopf und die Drei haben im wahrsten Sinn...