Den nächsten Tag verbringe ich fast vollständig in der Bibliothek. Meine Vorlesungen fallen aus, weil die Profs anderweitig beschäftigt sind. Zuhause würde mir sicher die Decke auf den Kopf fallen, da ich wahrscheinlich die ganze Zeit an Lina denken müsste. Also gehe ich in die Bibliothek und durchsuche die Fachbücher der Psychologie-Abteilung. Ich muss den ganzen Stoff den Mehdorn uns vorgebetet hat nochmal durcharbeiten, denn ich habe nichts von dem Verstanden. Mehdorns Unterrichtsmethoden sind nicht nur mehr als fragwürdig, sondern auch alles andere als lehrreich.
Mit einem großen Stapel Bücher in den Armen, suche ich mir einen freien Tisch. Vorsorglich habe ich auch meinen Rechner mit um mir Notizen zu machen. Normalerweise würde ich die entsprechenden Seiten aus dem Buch kopieren, anstreichen und mit Randnotizen versehen, doch auf meiner Kopierkarte ist kaum noch Guthaben und das Geld um sie wieder aufzuladen spare ich lieber für andere Sachen.
Hier im Halbschatten der Bibliothek, umgeben vom Geruch der Bücher, den gedämpften Schritten und dem Klappern der Tastaturen, arbeite ich so konzentriert wie sonst nie. Ich bin völlig vertieft in die Materie der Traumdeutung und die dazu gehörigen Freud'schen Hypothesen. Erst als ich auf die Uhr schaue und es schon halb eins ist, unterbreche ich meine Arbeit um etwas zu Mittag zu Essen. Meine Brote habe ich schon gegessen und mir auch, meiner Gewohnheit folgend, nicht mehr mitgenommen. Normalerweise gehe ich mittags immer in die Mensa, doch jetzt zögere ich. Das Essen dort kostet immerhin eine gewisse Menge Geld. Geld, das wir bald nicht mehr haben werden. Ich muss mir also was anderes suchen. Gegenüber der Bibliothek gibt es einen kleinen Supermarkt. Hier erstehe ich zwei Brötchen und einen Apfel. Ein bescheidenes Mahl, doch mir persönlich ausreichend.
Neben mehreren Grüppchen Studenten sitze ich auf der Mauer neben dem Haupteingang und genieße die Sonne. Wie mag ich wohl für die anderen Menschen auf der Straße wirken? Ein junger Mann in Jeans und Fleecepullover auf der Mauer mit einer Brötchentüte und einem Apfel. Im Gegensatz zu all den anderen Studenten ist er alleine und schaut auch nicht aufs Handy, sondern hält sein Gesicht in die Sonne. Der Psychologe in mir analysiert das eben gedachte und versucht es einzuordnen. Wie so oft scheitere ich, denn ich stehe mir selber im Wege. Ich bin viel zu befangen, um eine Eigendiagnose zu erstellen.
Mit meinem dunkelgrünen Fleecepullover wurde ich schon häufiger als altmodisch oder rustikal bezeichnet. Mag ja sein, ich habe mich noch nie um die aufkommenden Modestile gekümmert. Schon immer habe ich die Kombination aus Wanderschuhen, Jeans und einem Fleecepullover oder Karohemd gemocht. In dieser Hinsicht bin ich das Gegenteil zu Jonas. Er kommt aus relativ wohlhabendem Elternhaus und hatte somit noch nie ein Problem Geld für seine Kleidung auszugeben. Ich trage eher Kleidung von Hausmarken, Jonas auch Markenklamotten. Mit seiner Brille, dem Fünftagebart, Chinos, Sneaker und Pullover repräsentiert er das typische Klischee eines smarten Studenten.
Ich beende meinen gedanklichen Ausflug und mache mich wieder auf in die Bibliothek. Ich habe noch ein paar Kapitel durchzuarbeiten. Dank der umfangreichen Fachliteratur zum Thema Psychologie, kann ich mir sämtliches Unterrichtsmaterial erarbeiten. Ich kann sogar einige Sachen die wir damals mit Doktor Keller besprochen haben, besser verstehen als vorher. Ich sollte vielleicht öfter hierher kommen. Ist eigentlich keine schlechte Idee, hier gibt es schließlich kostenlosen Strom. Wir können Handys, Laptops, Powerbanks und sämtliche anderen akkubetriebenen Geräte aufladen uns so unsere Stromrechnung zu Hause drücken. Es ist vielleicht nicht viel, aber doch vielleicht die entscheidenden paar Euro.
Es ist gutes Wetter, also bin ich mit dem Fahrrad unterwegs. Auch als ich am Nachmittag die Bibliothek verlasse, scheint noch die Sonne. Der Wetterdienst sagt solch sonniges Wetter noch für die ganze Woche vorher. Besser so. So kann ich das Auto stehen lassen und noch mehr Geld sparen. Außerdem kann ich so noch etwas für meine Gesundheit tun. Nicht, dass ich mich sehr um körperliche Ertüchtigung kümmern würde, ich habe nicht viel übrig für Sport. Dennoch haben Forscher nachgewiesen, Fahrradfahrer würden länger leben als andere Menschen. Da sind ein paar Kilometer mehr nicht schlecht. Tut ja auch der Umwelt gut.
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Long Way
Non-FictionStudent sein. Das ist hart. Wenig Geld, viel zu lernen und natürlich viel zu wenig Zeit. Jan, Jonas und Lina kennen das nur zu Gut, doch dieser eine Tag wird ihr ganzes Leben umkrempeln. Alles steht plötzlich Kopf und die Drei haben im wahrsten Sinn...