Kapitel 4

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Die Temperaturen steigen. Was sonst. Schließlich sind wir mitten im Frühling. Noch eineinhalb Monate und die Semesterferien beginnen. Ich muss meine Semesterarbeit bald fertigbekommen. Viel Zeit habe ich nicht mehr. Trotzdem bin ich recht guter Dinge. Vor kurzem habe ich ein sehr gutes Buch über Psychologie in der Universitäts-Bibliothek gefunden. Wenn ich das Inhaltsverzeichnis richtig gelesen habe, müsste dort fast alles Wichtige für meine Arbeit drinstehen.

Der Regentag vor einigen Wochen an dem Professor Hellweg den Vorlesungssaal unter Wasser setzte, scheint der letzte für die nächste Zeit zu sein. Erst wenn der Sommer seine Hochblüte erlebt, werden wieder große Regenmengen aus den Wolken kommen und uns wieder einen wunderbar verhangenen Regentag bringen. Jetzt sind erst mal kleinere und größere Sommergewitter angesagt. Zwar fallen auch dort meist faszinierende Regenschleier die von den Windböen durch die Straßen getrieben werden aber das Gewitter zerstört alles. Schon als Kind hatte ich immer Angst davor. Auch jetzt noch spüre ich eine irrationale Furcht in mir und zucke jedes Mal zusammen wenn ein gewaltiger Donnerschlag die Fenster beben lässt. Als angehender Psychologe müsste ich mich doch eigentlich selbst heilen können, davon bin ich zuerst ausgegangen, doch es hilft nichts. Ich kann mich nicht selbst therapieren. Ich bin mir auch nicht sicher ob es sinnvoll ist zu einem Psychologen zu gehen. Schon der Absurdität wegen. Wer geht schon wegen Angst vor Gewitter zum Psycho-Dok. Außerdem kenne ich ja die Herangehensweise und Taktiken von Psychologen. Ich würde jeden Zug sofort durchschauen und mich nicht richtig auf das Gespräch einlassen können. Es wäre also unterm Strich sinnlos.

Natürlich klingelt der Wecker um sechs. Wie jeden Morgen stehe ich auf und frühstücke. Wie jeden Morgen mache ich mich mit Jonas uns Lina um 7:30 auf den Weg. Entgegen der letzten Woche ist es heute warm, also nehmen wir die Räder. Genau das dürfte auch halb München gedacht haben. Die Straßen sind voll von Radfahrern und Motorrädern. Wer kann lässt das Auto zuhause und genießt das Wetter an der frischen Luft. Wie jeden Morgen liefern sich Lina und Jonas ein Wettrennen auf der großen Zufahrt. Rennrad gegen Handbike. Ich lasse mich zurückfallen. Ich hege keine großen sportlichen Ambitionen und hätte mit meinem alten Mountainbike sowieso keine Chance gegen die beiden.

Wie jeden Morgen schließen wir unsere Räder ab und trennen uns. Jeder geht zu seinen Vorlesungen. Nachmittags werden wir uns wieder hier treffen, wenn wir uns nicht zufällig in der Kantine begegnen.

Ich hatte eigentlich erwartet Doktor Keller im Vorlesungssaal anzutreffen. Es wäre wichtig für mich denn ich habe einige Fragen bezüglich einer Semesterarbeit. Ich verstehe einige Aussagen die entscheidend sind für mein abschließendes Fazit sind, nicht. Sigmund Freud gibt einem durch seine komplizierte Ausdrucksweise mehr als einmal zu denken. Leider steht statt Doktor Keller ein mir unbekannter Mann am Rednerpult. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen.

Als die Vorlesung beginnt stellt er sich uns als Heinrich Mehdorn vor. Diplompsychologe und Gastdozent der Universität Wittenberg. Seiner Aussage nach ist Doktor Keller kurzfristig erkrankt und müsse deshalb auf nicht absehbare Zeit im Krankenhaus bleiben. Mir behagt das nicht. Dieser Doktor Mehdorn ist mir unsympathisch. Er hat etwas herablassendes und definitiv keine Ahnung von Vorlesungen. Statt eines lehrhaften Vortrags hält er uns eine Moralpredigt über die Aufgaben und Verpflichtungen eines Psychologen. Er redet kaum 10 Minuten als zwei Studenten aus den ersten Reihen – Hugo und Alice – aufstehen und den Saal verlassen. Unter Studenten ein eindeutiges Zeichen des Protestes. Jeder Professor wäre aus der Haut gefahren oder einigermaßen verwirrt, doch Doktor Mehdorn würdigt die beiden keines Blickes. Er unterbricht seinen Redefluss noch nicht einmal sondern ignoriert die beiden einfach. Minuten später macht sich Unruhe im Saal breit. Wir tuscheln mit-einander. Keiner kann Mehdorn etwas abgewinnen. Ein kollektiver Streik wird diskutiert, doch am Ende bleiben wir sitzen. Die Vernunft hat gesiegt. Wir schauen Doktor Mehdorn zu und hängen unseren Gedanken nach. Keiner macht sich Notizen. Wozu auch? Seine Auffassung von Psychologie ist uns schnuppe. Soll er doch reden was er will, denn für unsere Semesterarbeit dürfte das wohl kaum von Belang sein.

Long WayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt