Die Wahrheit

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Tom sagte nichts. Er sah mich einfach nur an. Ich atmete tief durch und redete weiter.
"Ich weiß, es klingt ziemlich klischeehaft, aber wir hatten nichts. Meine Eltern und ich, wir waren die, die von niemandem gesehen wurden. Während meine Mutter sich mit kleinen Jobs durchschlug, arbeitete mein Vater Tag und Nacht in seiner Firma. Manchmal haben wir ihn drei Tage am Stück nicht gesehen. Und trotzdem hat es nie gereicht. Ich konnte nicht zur Schule, wir hatten ja kein Geld. Dann..." Bis zu diesem Punkt redete ich, ohne auch nur einmal zu atmen. Der Kloß in meinem Hals wurde größer; ich versuchte, ihn herunter zu würgen, doch es klappte nicht.
"Dann ist meine Mutter krank geworden. Sie hat sich zwar wieder erholt, doch das hat lange gedauert. Nur mit dem Gehalt meines Vaters hätten wir es nicht geschafft. Nicht mal ansatzweise.", erzählte ich. Tom ließ mich dabei nicht eine Sekunde aus den Augen.
"Sie wollten nicht, dass ich so aufwachse. Sie wollten mir ein besseres Leben ermöglichen."
"In England?", fragte Tom, nachdem ich eine lange Pause gemacht hatte. Doch ich wiegte nur den Kopf hin und her.
"Nicht ganz. Eigentlich sollte ich nach Schottland. Eine entfernte Verwandte meines Vaters hatte zugestimmt, mich bei sich aufzunehmen, aber nur unter der Bedingung, dass wir alle Kosten für meine Reise decken. Als wir endlich das Geld zusammenhalten, war ich 14. Ein Flug wäre viel zu teuer gewesen, also haben wir irgendeinen Trucker... nunja, angeheuert. Außerdem habe ich einen gefälschten Pass bekommen, der war von der Frau in Schottland. Ich weiß noch, als ich eingestiegen bin, da haben sie geweint. Das haben sie sonst nie gemacht." Eine Träne löste sich, doch ich beachtete sie gar nicht.
"Ich hab keine Ahnung, wie lange wir gefahren sind. Hinten war ein kleiner Raum, versteckt hinter einer Spanholzplatte. Es hat nach Diesel gerochen. Und da drin hab ich mich die ganze Zeit versteckt. Wir haben es durch sechs Kontrollen geschafft, aber bei der siebten haben sie mich entdeckte. Das war hier in England, eine zufällige Polizeikontrolle. Den Trucker haben sie festgenommen, und ich habe ihn nie wieder gesehen. Mich haben sie dann in ein Kinderheim gebracht. Du weißt nicht was das für ein Gefühl war, dort zu sein. Ich brauchte mir keine Sorgen mehr zu machen, ob ich heute überhaupt etwas zu essen bekommen würde, und ich konnte sogar zur Schule. Aber trotzdem..." Ich schloss die Augen und merkte, wie sich immer mehr Tränen den Weg über mein Gesicht bahnten.
"Deine Eltern..." Wieder nickte ich, wobei mir ein leises Schluchzen entfuhr.
"Ich bin abgehauen. Ich wollte nicht in diesem Reichtum leben, wenn die beiden immernoch - ..." Wieder unterbrach ich mich selbst, als ich mir mit der Hand übers Gesicht wischte.
"Aber du siehst ja, was aus mir geworden ist. Ich habe sie im Stich gelass - ..."
"Corey!" Tom nahm mein Gesicht in beide Hände, sodass ich gezwungen war ihn anzusehen.
"Sag so etwas nie wieder, hörst du! Du hast alles getan, was du konntest! Und dass es nicht gereicht hat, ist nicht deine Schuld...", sagte er, wobei er gegen Ende hin immer leiser wurde. Zärtlich strich er mit seinem Daumen über meine Wange und wischte so ein paar Tränen beiseite.
Ich schniefte. Als wäre ich ein kleines Kind das zu dickköpfig war, sich die Nase zu putzen.
"Tom?", fragte ich leise und presste die Lippen aufeinander. Mein Gegenüber lächelte und nickte dabei.
"Ja?"
Sein Blick huschte über mein Gesicht; es schien, als würde er jede Faser genauestens studieren. Auch ich hatte mich in seinen strahlend blauen Augen verloren, die mich so gründlich musterten. Genau wie damals beugte er sich wieder ein Stück vor. Mein Blick richtete sich nun auf seine Lippen. Sie waren schmal, leicht geöffnet; und im nächsten Moment lagen sie schon auf meinen. Anders als beim letzten Mal erwiderte ich sofort und schlang meine Arme um Toms Hals.
Er lächelte in den Kuss hinein und seine Hände wanderten nun von meinen Wangen auf meinen Rücken.

"Tom?", flüsterte ich leise, als ich aus dem Badezimmer kam.
"Was ist denn?" Er stand auf und lächelte sanft. Ich wurde rot und schaute beschämt auf den Boden.
"Naja, kann ich... kann ich bei dir schlafen?" Langsam hob ich meinen Blick wieder. Toms Wangen glühen förmlich.
"Ja, klar...", stotterte er und nach und nach bildete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht.
"Na dann komm!" Der Braunhaarige nahm meine Hand und zog mich mit sich bis in sein Schlafzimmer. Augenblicklich fühlte ich mich geborgen; die hellen, beigen Wände, das große, unheimlich gemütlich aussehende Bett, alles strahlte so viel Wärme aus.
Tom ließ meine Hand los um das Licht auszuschalten und um unter die Bettdecke zu kriechen. Ich legte mich neben ihn, sodass unsere Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren.
"Wie geht's dir?", fragte der Braunhaarige leise und legte seinen Arm um meine Taille. Wohlig seufzend schloss ich die Augen und rutschte noch ein Stück näher zu ihm.
"Ist das Antwort genug?" Tom lachte, wobei ich jede Vibration seines Brustkorbs deutlich spüren konnte. Er küsste mich auf die Stirn und seufzte zufrieden.
"Schlaf gut..."

Mein Bettnachbar murmelte irgendetwas und zog mich noch mehr in seinen Schraubstockgriff. Ich war schon seit 'ner geschlagenen halben Stunde wach, doch ich hatte es mir nicht nehmen lassen Tom noch ein bisschen beim schlafen zu beobachten. Es war so wahnsinnig süß, wie er sich immer kleiner zusammenrollte und sein Gesicht in meiner Halsbeuge vergrub. Auf einmal spürte ich, wie er tief einatmete und sich im nächsten aufrichtete. Verschlafen sah er sich um; als er mich jedoch 'entdeckte', formte sich ein kleines Lächeln auf seinen Lippen.
"Gut geschlafen, Darling?", fragte er mit seiner tiefen, rauen Morgenstimme, welche mir einen kleinen Schauer über den Rücken jagte.
"Wie könnte ich nicht?", gab ich glücklich zurück und zog ihn an seinem T-Shirt wieder zu mir nach unten. Er grinste kurz und küsste mich dann. Ich vergrub meine Hände in seinen Haaren, woraufhin er seine Arme um meine Hüfte schlang. Als wir uns voneinander lösten, lag ich auf seinem Bauch; mein Herz schlug schneller als ein Presslufthammer und mein Atem war auch nicht gerade langsam.
Ich rutschte aus dem Bett und blieb dann im Türrahmen stehen.
"Ich geh spazieren!", sagte ich und zwinkerte ihm zu.

Heavens tearsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt