Kapitel 2

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Freunde sind die, die da sind, wenn andere gehen.

Finley schaffte es am Montag nicht, sich krankzustellen. Er musste dabei lachen und Abigail, die ihren Sohn ja auch schon ein paar Jahre lang kannte, durchschaute ihn sofort. Nick hatte so etwas Ähnliches schon vermutet und stand wie immer mit seinem Gebrauchtwagen um halb acht vor Finleys Haustür.

In der Schule begleitete Nick Finley noch zu seinem Schließfach, dann trennten sich ihre Wege allerdings bis zur Pause, da Finley nun einen Förderkurs in Mathe hatte und Nick seinen Leistungskurs in Chemie.

Es war Finley leider nicht wirklich möglich, dieselben Kurse wie Nick zu besuchen, denn einige Sachen konnte er einfach nicht so schnell und gut verstehen, wie es von den Schülern erwartet wurde. Es war nicht so, dass Finley dumm war, das war er definitiv nicht, aber er brauchte nun einmal länger, um Dinge zu lernen und zu verstehen, er war ziemlich naiv und in manchen Bereichen einfach noch nicht so weit wie andere in seinem Alter. Oder in Nicks Alter. Zurückgeblieben, so nannten es die meisten, aber Nick fand das sehr gemein. Für ihn war Finley ein normaler Junge und Freund und seine Behinderung war ihm völlig egal. Er hatte viel Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen und obwohl über die Jahre hinweg die Kluft zwischen Nicks und Finleys Entwicklung etwas größer geworden war, änderte nichts die Tatsache, dass der ältere für Nick wie ein Bruder war, den er mit seinem Leben beschützen würde.

Als Nick gerade sein Chemiebuch aus seinem Schließfach nahm, stellte sich plötzlich Carter Jameson neben ihn, mit dem er zusammen Football spielte und der auch in einigen Kursen von Nick war. Carter war definitiv beliebt – und definitiv attraktiv, mit seinen schwarzen Locken, die ihm unordentlich in die Stirn fielen. Er hatte einen gleichmäßig gebräunten Teint, dichte, dunkle Augenbrauen, eine schmale und scharf geschnittene Nase und eine deutliche Kinnlinie und seine Augen waren strahlend blau.

„Hi Carter", begrüßte Nick den schwarzhaarigen Jungen lässig. Er und Carter verstanden sich gut, auch, wenn ihre Freundeskreise sich nicht wirklich überschnitten.

„Morgen Nick", entgegnete Carter, „ich hab da mal 'ne Frage."

„Ich höre", Nick schloss seinen Spind und lehnte sich dagegen, sah zu Carter Jameson auf, der ihn um etwa einen halben Kopf überragte. Carter war recht muskulös und ein sehr guter Footballspieler, erfüllte jedoch insofern nicht völlig das Klischee, dass er ebenfalls gerne Theater spielte und schon was auf dem Kasten hatte – beides führte dazu, dass auch die Nerds ihn recht gerne mochten.

„Ich schmeiße am Wochenende 'ne Party und wollte dich fragen, ob du Bock hast zu kommen", erzählte Carter, „der halbe Jahrgang wird da sein."

„Klar, ich komme gerne", sagte Nick sofort zu, „Ich muss zu Hause noch mal nachfragen, ob das in Ordnung geht, aber eigentlich sollte es klappen. Danke für die Einladung."

„Kein Ding", nickte Carter, dann wurde sein Blick verlegen und er trat peinlich berührt von einem Bein auf das andere.

„Du, sag mal...", begann er zögerlich, „dein Kumpel da, der so ein bisschen zurückgeblieben ist... der soll aber besser nicht kommen, okay?"

„Finley ist nicht zurückgeblieben!", korrigierte Nick sofort mit einem Unterton, der keinen Widerspruch duldete, „und wenn du mich einlädst, lädst du ihn auch ein. Entweder wir beide oder gar nicht."

Nick konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass Finley Lust auf so eine Party haben würde und Abigail wäre sicherlich auch nicht gerade begeistert, aber er wollte seinen besten Freund zumindest fragen und ihm die Möglichkeit geben, mitzukommen. Diese generelle Ablehnung Finley gegenüber strapazierte Nicks Nerven gewaltig.

„Okay, ist ja gut", seufzte Carter, „dann bring ihn halt mit. Aber begeistert bin ich nicht davon."

Nick zuckte mit den Schultern.

„Er ist mein bester Freund", stellte Nick klar, „hast du ein Problem damit?"

„Chill Bro", Carter hob abwehrend die Hände, „'tschuldigung."

„Schon okay", Nick seufzte, sah dann auf die große Uhr an der Wand, „ich muss los, sehen wir uns beim Football?"

„Klar", Carter hob die Hand und schlug mit Nick ein, bevor die beiden wieder getrennte Wege gingen. In seinem Chemieraum angekommen, breitete sich Nick an seinem Tisch aus und starrte nachdenklich aus dem Fenster.

Es ärgerte ihn, dass die meisten Schüler Finley einfach als den ‚Zurückgebliebenen' abstempelten und nichts weiter von ihm wissen wollten, obwohl so viel mehr dahintersteckte. Finley war nicht der schlaueste oder schnellste Junge der Welt, er verstand vielleicht einiges nicht, was andere seines Alters mit Leichtigkeit verstanden, man konnte mit ihm keine zweideutigen Witze machen und einige schwierige Wörter musste man womöglich mehrmals erklären, aber Finley hatte ein Herz aus purem Gold und war mit Abstand der liebste, großzügigste und warmherzigste Mensch, den Nick je getroffen hatte.

Finley würde sicher nicht Gefäßchirurg oder Rechtsanwalt werden, doch man konnte sich immer auf ihn verlassen. Wenn er einmal etwas versprach, hielt er dieses Versprechen um jeden Preis und er würde nicht im Traum daran denken, anderen zu schaden oder sie auf eine böse Art und Weise hereinzulegen, weil er sich einfach nicht vorstellen konnte, wieso man so etwas tun sollte. Die kleinen Streiche, die er sich ab und an mit Nick spielte, gehörten da selbstverständlich nicht dazu, denn Finley liebte es ebenfalls, Abigail und Nick ein bisschen zu foppen, allerdings beteuerte er hinterher immer, wie sehr es ihm doch leidtat. Und so kleine Dinge wie Salz auf der Zahnbürste oder ein Klebestreifen unter dem Wasserhahn konnte man ihm wirklich nicht übelnehmen, vor allem, da er nicht selten selbst auf seine Tricks hereinfiel.

Nick war sich sicher, dass Finley sehr viel mehr Freunde haben könnte, wenn die Menschen um ihn herum sich nur ein wenig mehr bemühen würden, auf ihn Rücksicht zu nehmen und ihn zu verstehen. Und mit ‚Rücksicht nehmen' war ja nicht einmal gemeint, mit Finley wie mit einem kleinen Kind zu reden, das konnte er – sehr zurecht – nicht leiden, sondern einfach nicht böse zu werden, wenn er mal etwas nicht sofort nachvollziehen konnte oder keine Lust hatte, feiern zu gehen. Die Welt brauchte mehr Menschen wie Finley, die einfach mit sich zufrieden waren und mit so einer positiven Grundeinstellung ins Leben gingen, dass es schwierig war, sie nicht zu mögen, wenn man sie einmal besser kannte.

Nick entdeckte oft, dass Finley dieselbe positive und fröhliche Art hatte wie Menschen mit Trisomie 21, obwohl Finleys geistige Beeinträchtigung eine ganz andere war.

Müsste Nick sich entscheiden, ob er lieber nur noch mit Finley und niemandem sonst befreundet sein wollte oder mit allen möglichen Leuten außer Finley, er würde sich ohne zu zögern für den blonden Jungen entscheiden, mit dem er schon so viel gemeinsam erlebt hatte.

friend (boyxboy) || DEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt