Immer die Wahrheit zu sagen bringt einem wahrscheinlich nicht viele Freunde,
aber die richtigen.Tainted Love wurde in Rekordzeit zu Finleys neuem Lieblingslied. Bereits am Dienstagabend konnte er mehr oder weniger den gesamten Text auswendig und brüllte ihn fleißig mit, sodass sich Nick ernsthaft Sorgen machte, die Nachbarn könnten sich beschweren.
Am Mittwochnachmittag klingelte Nick an Finleys Haustür, da sie zusammen ins Kino gehen wollten, anschließend sollte Finley bei Nick übernachten, da morgen die ersten beiden Stunden entfielen.
Kino mit Finley war immer eine Attraktion für sich und eigentlich konnten einem die anderen Kinobesucher nur leidtun, denn Finley sah nicht ein, leise zu sein. Wenn er sich über einen Charakter aufregte, dann tat er das mit vollem Elan und nahm wenig Rücksicht darauf, dass jemand anderes den Film vielleicht genießen wollte. Außerdem konnte er nicht flüstern.
Abigail, Finleys Mutter, öffnete Nick die Tür und umarmte ihn zur Begrüßung flüchtig. Die groß gewachsene Frau hatte sich in den letzten zwölf Jahren nur unwesentlich verändert. Sie trug noch immer einen Bob, nur waren ihre blonden Haare im Nacken ein wenig dunkler und an den Schläfen heller geworden und in den letzten Jahren entstandene Falten zogen sich durch ihr Gesicht. Trotzdem wirkte Abigail so, als wäre sie kein Stück gealtert.
„Finley wartet schon sehnsüchtig auf dich", informierte sie Nick und richtete ihre geblümte Bluse vor dem Spiegel im Flur, „übrigens war es keine sehr gute Idee, ihm Marilyn Manson zu zeigen. Finley hat sich meine alten CDs vom Dachboden geholt und hört sie seitdem rauf und runter."
„Ups", grinste Nick, „sorry."
Neugierig sah er zu, wie Finleys Mutter ein Paar elegante Sandalen aus dem Schuhschrank unter der Treppe holte.
„Hast du eine Verabredung?", wollte er interessiert wissen. Abigail war alleinerziehend und single, seit Nick sie kannte, denn Finleys Vater – oder sein ‚Erzeuger', wie Abigail ihn nur noch nannte – hatte die kleine Familie verlassen, sobald klar gewesen war, dass sein Sohn definitiv eine Behinderung hatte. Finley hatte keinerlei Erinnerungen an seinen Vater, er hatte immer nur seine Mutter bei sich gehabt. Vielleicht war das der Grund, wieso er Nicks Vater Oliver so sehr mochte, dieser war für ihn wie ein Onkel – und Nicks Mutter Isabelle wie eine Tante.
„Naja, nicht wirklich", verneinte Abigail Nicks Frage, „hat was mit der Arbeit zu tun. Aber wer weiß, der Kunde sieht auf jedenfalls gut aus."
Sie lachte herzhaft und deutete zum Obergeschoss.
„Aber du solltest jetzt hochgehen, sonst wird Finley wuschig", lächelte sie. Nick nickte nur grinsend und eilte die Treppe nach oben. Er fand seinen besten Freund in seinem Zimmer, wo er – bäuchlings auf seinem Bett liegend – mit Kopfhörern Musik hörte. Finleys Zimmer passte nicht zu einem 19-jährigen. Die Wände waren in einem hellen Blau gestrichen, mit weißen Flecken, sodass der Eindruck von Schäfchenwolken an einem blauen Himmel entstand, auf einem Regalbrett über Finleys Bett reihten sich einige Kuscheltiere und sein Sitzsack sah aus wie ein gigantischer, grüner Plüschelefant, den jemand an die Wand gelehnt hatte. Nick war schon immer ein klein wenig neidisch auf Finleys Zimmer gewesen, auch, als er für Plüschtiere und bunte Bettwäsche zu alt war, denn dieser Raum hatte eine Atmosphäre, durch die man sich sofort wohl fühlte und nie wieder gehen wollte. Es war ein warmes Zimmer, mit großen Fenstern und bunten Vorhängen, die weder zu einem Jungen, noch zu dem Rest der Einrichtung passten. Alle Möbel waren aus verschiedenen Hölzern, sodass ein unruhiger Eindruck entstand und an den Wänden hingen Poster von Zeichentrickfiguren, die Finley mochte, zum Beispiel Patrick aus Spongebob oder Phineas und Ferb.
Das Zimmer von Finley war auf so eine verquere Weise durcheinander und wirkte fehl am Platz in dem ordentlichen Haus, aber es passte zu Finley und hätte Nick – ohne den realen Raum zu kennen – ein Zimmer für seinen blonden Freund gestalten sollen, es hätte exakt so ausgesehen.
„Buh!", begrüßte Nick Finley und warf sich neben ihn aufs Bett. Finley nahm verwirrt die Kopfhörer ab, dann erkannte er Nick und umarmte ihn fest.
„Endlich!", entfuhr es ihm, „ich warte schon seit Ewigkeiten!"
„Entschuldige, aber ich musste noch meine Hausaufgaben fertig machen", entschuldigte sich Nick, „hast du deine Tasche mit den Übernachtungssachen gepackt?"
Finley schüttelte den Kopf.
„Ich hab gehofft, dass du das machst", gab er grinsend zu, „im Übrigen hab ich meine Hausaufgaben schon fertig, aber Mama hat mir auch geholfen."
„Aha", Nick erhob sich vom Bett und öffnete den Kleiderschrank, suchte die Sachen zusammen, die Finley brauchen würde. Währenddessen hörte er seinem besten Freund zu, wie dieser erzählte, wie sehr er sich auf den heutigen Film freute.
„Ich hoffe, dass da nicht allzu viele Mädchen im Kino sitzen werden", meinte Finley, „weil wenn dann einer stirbt – der Hund oder so – dann heulen die alle. Dabei stirbt der doch gar nicht in echt, sondern nur im Film. Nick, du heulst aber nicht, oder?"
„Ich werde versuchen, es mir zu verkneifen", grinste Nick mit einem leicht ironischen Unterton, doch ihm war durchaus bewusst, dass Finley mit Ironie und Sarkasmus ungefähr so viel anfangen konnte wie ein Löwe mit einer Nähmaschine.
„Kannst du deine Zahnbürste aus dem Bad holen?", fragte Nick, „dann haben wir alles und können los."
„Klaro", Finley sauste ins Bad und brachte Nick dann eine Zahnbürste, sowie Zahnpasta und einen Kamm, „das muss alles mit", beharrte er. Nick nickte nur und stopfte alles in den Rucksack, den er für Finley gepackt hatte und anschließend schulterte.
„Okay, wir können los", verkündete er. Im Erdgeschoss setzte sich Finley kurioserweise eine dunkelgrüne Mütze auf, dann verabschiedeten sich die beiden Jungs von Abigail, Nick packte den Rucksack in den Kofferraum seines Autos und sie stiegen ein.
„Können wir Tainted Love hören?", bat Finley, „bitte, ich singe auch nicht mit."Daran würde er sich zwar sowieso nicht halten, aber Nick stimmte dennoch zu und übergab Finley sein Handy, damit dieser DJ spielen konnte. Wenig später fuhren sie mit heruntergelassenen Fenstern durch die Stadt und hörten Tainted Love in Dauerschleife, doch trotzdem war Nick völlig zufrieden. Wenn Finley glücklich war – was so gut wie immer der Fall war – dann war er es auch.
Als Nick gerade an einer Ampel stand, hielt links neben ihm ein anderes Auto. Der Fahrer ließ sein Fenster runter und Nick erkannte Carter, der zusammen mit einigen Kumpels im Wagen saß.
„Hi!", brüllte der Schwarzhaarige, „coole Mucke!"
„Danke!", erwiderte Nick und warf einen Blick zu Finley, der völlig in der Musik aufging. Er fiel ebenfalls mit ein und sang mit, sein Blick wechselte jedoch zwischen Carter und der Ampel hin und her.
Carter und seine Freunde fingen logischerweise an zu lachen, als sie sahen, wie sich ihre Nachbarn zum Affen machten, doch es war ein freundliches Lachen und sie lachten sie nicht aus. Just in diesem Moment begann Finleys Lieblingsstelle und er schrie den Text mit, so laut er konnte.
„Don't touch me please, I cannot stand the way you tease!", dazu fuchtelte er mit seinen Händen herum und verpasste Nick beinahe eine Backpfeife. An diesem Punkt konnte auch der Braunhaarige nicht mehr an sich halten und prustete los, während die Jungs im Wagen neben ihm in schallendes Gelächter ausbrachen.
Als die Ampel auf Grün sprang, die beiden Autos losfuhren und Carter sein Fenster wieder hochfuhr, musste Nick noch immer grinsen und beobachtete aus dem Augenwinkel amüsiert Finley, der immer noch bei seinem neuen Lieblingslied mitsang.

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friend (boyxboy) || DE
Teen Fictionfriend (plural friends) A person other than a family member, spouse or lover whose company one enjoys and towards whom one feels affection. Nick und Finley verbindet eine ganz besondere Art der Freundschaft. Die beiden sind Nachbarn, seit sie denken...