Kirchen und Kapellen

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"Ich liebe es hier!", schrie Lumen auf, nachdem sie sich auf das knarrendes Bett fallen ließ, in welchem sie schon als kleines Mädchen geschlafen hatte. Dieses kleine, gemütliche Zimmer, das sich im Dachgeschoss befand, war schon immer ihre Zuflucht gewesen. Sie schloss die Augen und rief sich in ihren Gedanken die Erinnerungen an ihre Kindheit hervor. 

Jeden Sommer war sie hierher gekommen, um ihre Ferien bei ihren Großeltern zu verbringen. Noch jetzt konnte sie den Duft des frisch abgemähten Grases riechen, die Feinheit der Leinenbettwäsche fühlen und das Gackern der Hennen und Gänse auf dem Hof hören. An ihren Füßen hat immer eine Katze geschnurrt und im Gebälk haben Spinnen gelebt. Jeden Morgen hat ihre Oma ihr einen Malzkaffee gekocht, in dem Lumen sich Brotstücke eingetaucht und diese danach genüsslich genascht hat. Irgendwann wuchs jedoch das kleine Mädchen zu einer jungen Frau heran und hatte andere Interessen, so dass sie aufhörte, ihre Oma zu besuchen. Sie ließ sich mit den Attraktionen der Großstadt locken und vergaß das geliebte Dorf. Doch jetzt hatte Lumen von der wilden Welt die Nase voll und vor allem versuchte sie, einen unzuverlässigen, flatterhaften Jungen zu vergessen, an welchen sie drei ganzen Jahre verschenkt hat und welcher es nicht wert gewesen war. Er hat ihr das Herz gebrochen, indem er ihre Cousine geschwängert hat. Lumen verließ ihre gemeinsame Wohnung, die sie in München besaßen und jetzt war sie hier. Hier wird sie ihre Ruhe zum Studium finden und endlich die Zeit für ihr Lieblingshobby haben - fürs Malen.

Ihre Koffer waren noch nicht ausgepackt, aber das hatte noch Zeit. Sie zog einen roten Rock und eine Bluse heraus und hing beides auf einen Kleiderbügel. Morgen wird es eine Sonntagsmesse in der örtlichen Kirche geben, wohin sie mit ihrer Oma gehen sollte. Lumen war zwar keine Tiefgläubige, aber sie wollte ihrer Oma eine Freude machen. Außerdem war sie auf die Einwohner des Dorfes neugierig. Ob sie noch jemanden erkennen würde? Früher hatte sie hier ein paar Freunde, mit denen sie verschiedene Kapriolen getrieben hat. Es wäre schön, jemanden von ihnen wiederzusehen.

"Na, hast du dich eingewöhnt?" Ihre Oma stand im Türrahmen und beobachtete Lumen fröhlich. Sie war glücklich, ihre Enkelin wieder bei sich zu haben. Nachdem ihr Ehemann und Lumens Opa gestorben war, hatte sie hier niemanden, mit dem sie stundenlang plaudern konnte. Sie gehörte zur dörflichen Klatschbase - nichts ist ihr entgangen.

"Damit habe ich kein Problem, Omi. Ich fühle mich hier immer heimisch&quot", erwiderte Lumen und küsste sie auf die Wange.

"Schade, dass du hier so lange nicht mehr gewesen bist. Du wirst dich noch umsehen, was sich alles hier verändert hat! Und jetzt komm, ich habe uns einen Kaffee gekocht. Und dazu deinen Lieblingskuchen mit Heidelbeeren gebacken."

***

Der bekannte Geruch von Weihrauch stieg ihr in die Nase, sobald sie die kleine Kirche betrat. Früher hatte sie diesen merkwürdigen Geruch gehasst. Doch jetzt hatte es etwas Geheimnisvolles an sich. Mit angehaltenem Atem sah sie sich um. Die vertrauten, bekannten alten Wände gaben die gleiche Kälte wie früher ab. Die rissige Malerei des Himmels auf der Decke erinnerte sie daran, dass sie hier leise sein muss, denn hierher kamen die Leute, um Ruhe und Frieden zu finden. Sie betrachtete ihre Oma, die ihre Finger ins Weihwasser eintauchte und sich bekreuzigte und trat dann zögerlich zum Weihwasserbecken heran, um das gleiche zu tun.

Die Kirche war ziemlich voll, jedoch gab es noch freie Plätze in der ersten Reihe, wo ihre Oma gewöhnlich gesessen hat. Das hatte Lumen noch in Erinnerung - die erste Reihe, rechts von den Gang. Nur zwei ältere Damen saßen dort und diese begrüßten leise Lumens Oma. Lumen blieb auf dem Rand sitzen. 

Der Gottesdienst wurde eröffnet und der Pfarrer mit den Ministranten kam aus der Sakristei heraus. Sie verbeugten sich vor dem prächtigen Altar und wendeten sich dann zu den Leuten. Lumen hat völlig vergessen, wie man sich in der Kirche verhalten sollte und machte deswegen alles ihrer Oma nach. Sie sang die Lieder aus dem Gesangbuch, weil sie die Worte nicht kannte. Sie hoffte nur, dass niemand ihren Gesang hörte, denn sie konnte einfach nicht singen. Vielleicht gerade deswegen fesselte eine sanfte Stimme sie, die von der linken Seite zu ihr drang. Sie traute sich jedoch nicht, sich umzudrehen, da es sich nicht gehörte.

Früher hatte sie sich in der Kirche immer gelangweilt, heute war sie bezaubert. Sie verschlang jedes Wort, das aus dem Mund des Pfarrers kam und sie betrachtete aufmerksam alles, damit ihr nichts entging. Sogar das Gebet auf den Knien war ihr nicht unangenehm wie früher. Sie faltete ihre Hände zusammen und versuchte, in ihren Gedanken zu Gott zu sprechen. Sie wusste zwar nicht, was sie sagen sollte, aber das war nicht so wichtig.

Die Leute waren in ihr Gebet vertieft und die Kirche verstummte. Nur ein leises Flüstern war zu hören. Lumen spürte auf einmal einen seltsamen Drang, sich umzudrehen, deswegen hob sie langsam den Kopf und schaute nach links. Ihr Blick traf auf einen jungen Mann, der mit geschlossenen Augen sein Gebet in die zusammengefalteten Hände flüsterte. Er bewegte lautlos seine Lippen und nahm nichts um sich herum wahr, als ob er sich in einer anderen Welt befand. Wie versteinert starrte sie ihn an, unfähig den Blick abzuwenden. Er hatte unfassbar lange Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren und trug ein weißes Hemd und eine schwarze Cordhose, die ihm zusehends viel zu groß war, weil er ziemlich zierlich war. Sie sah nur sein Profil, trotzdem fiel ihr auf, dass er sehr hübsch war. Sie war tief gerührt, wie hingebungsvoll er betete.

Das Gebet war zu Ende und der Pfarrer hatte wieder zu predigen angefangen, was Lumen aus der Träumerei herausriss. Alle sind aufgestanden und der Klang der Orgel erfüllte die Kirche. Lumen beherrschte sich, nicht wieder nach links zu schauen und starrte lieber in ihr Gesangbuch. Die Messe näherte sich dem Ende. 

Nachdem der Pfarrer den Segen gegeben hatte, registrierte Lumen eine Bewegung neben sich. Sie sah den jungen Mann aufstehen und die Bank verlassen. Er kniete vor dem Altar nieder, bekreuzigte sich, woraufhin er wieder aufstand und eilig die Kirche verließ. Niemandem hat er dabei nur einen Blick gewidmet, mit niemandem hat er nur ein Wort ausgetauscht. Lumen starrte verwirrt hinter ihm, bis er im Ausgang verschwand. Wer zur Hölle war das? Und warum hatte er es so eilig?

Den ganzen Tag ging der Junge Lumen nicht aus dem Kopf. Sie war neugierig, doch sie wollte ihre Oma nicht fragen. Um auf andere Gedanken zu kommen, packte sie ihren Skizzenblock und die Stifte und ging an die Luft. Sie wollte zuerst im Garten malen, doch dann entschied sie sich anders. Sie begab sich über einen Steig hinter dem Haus, der zu einem Wald führte. Sie kannte diesen Wald - als kleines Kind war sie immer da, kletterte barfuß auf die Bäume und ihre Oma schimpfte immer, weil sie ständig zerkratzt nach Hause zurückgekommen war. Sie lächelte belustigt bei dieser Erinnerung. 

Sie war verwundert, wie hoch die Fichten inzwischen gewachsen waren. Sie musste ihren Kopf zurücklegen, um deren Spitzen zu sehen. Sie ging langsam den Wald durch und beobachtete, was alles sich hier verändert hatte. Ziemlich viel. Früher kam ihr der Wald dichter und düsterer vor. Nur der Teufelsfelsen blieb der gleiche. So hatte sie mit ihren Freunden einen Felsen benannt, der wie ein Tor zur Hölle aussah. Jetzt musste sie über den Namen schmunzeln.

Hinter dem Wald haben sich früher Getreidefelder ausgebreitet und Lumen war froh, als sie die goldenen Ähren von fern erblickte, die sanft im Wind schwankten. Wieder kam sie sich wie ein sorgenfreies Kind vor und lief durch das goldene Feld. Behutsam stieß sie das Getreide zur Seite, um die Ähren nicht kaputt zu machen.

Nach einer kurzen Weile stieß sie an einen Feldweg an, der zum Nachbardorf führte. Lumen schaute sich um und sofort fesselte etwas ihre Aufmerksamkeit. Etwas war anders hier. Etwaspasste hierher nicht.

Eine kleine, wunderschöne Kapelle, die zwischen zwei stattlichen Linden stand. Früher gab es diese hier nicht, da war sich Lumen sicher. Sie erinnerte sich noch an die zwei Bäume, aber dieses kleine Bauwerk hier war neu. Neugierig trat Lumen näher, um durch ein kleines Fenster hinein zu schauen. Die kleine Tür war geschlossen, aber sie sah einen kleinen Altar, auf welchem eine Statue der Jungfrau Maria stand. Jemand hatte die Kapelle liebevoll mit Blumen geschmückt und ein frischer Blumenstrauß befand sich auch in einer Vase auf dem Boden. Lumen hielt inne, als sie eine Fotografie in einem weißen Rahmen erblickte, die an der Wand hing. Sie kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen und sie erkannte ein Mädchengesicht mit großen braunen Augen. Eine Kerze brannte unter der Fotografie. Lumen stockte der Atem, als ihr klar wurde, dass dieses Mädchen wahrscheinlich nicht mehr am Leben war. Ihr Herz verkrampfte sich bei der Vorstellung, dass die junge Frau vielleicht genauso alt wie sie selbst sein könnte, als sie gestorben war. Was war ihr wohl passiert?

Lumen bekreuzigte sich und setzte sich dann ins Gras. Sie öffnete ihren Skizzenblock und fing andie Kapelle zu malen.

Zwischen den ÄhrenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt