Good Feeling

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Ich schmiss meine Spraydosen in den Rucksack und zerrte den Reisverschluss zu. Aus dem Wohnzimmer tönten die Stimmen der Moderatorin und der Bandmitglieder durch die ganze Wohnung. Ich verdrehte genervt die Augen, nahm den Rucksack und ging zur Haustür. Als ich am Wohnzimmer vorbeikam, blieb ich kurz stehen.
„Brooke, ich bin mir sicher, dass Mrs Richards kein One Direction Fan ist. Kannst du den Fernseher vielleicht ein bisschen leiser machen?"
Mrs Richards wohnt eine Etage unter uns. Sie ist pensioniert und eigentlich sehr nett. Aber wenn wir zu laut sind, wird sie ungemütlich.
„Mrs Richards weiß gar nicht, was sie verpasst. Du übrigens auch nicht", strahlte Brooke.
„Mann, Alex! Schau dir mal Liam an! Oder Niall! Oder Zayn! Oder-"
„Ja, Brooke, sie sind alle richtig heiß", meinte ich und würdigte dem Fernseher demonstrativ keinen Blickes.
„Ich geh ein bisschen raus, ok? Bin um spätestens fünf wieder zuhause"
Aber Brooke hörte mir nicht zu.
„Tja meine Lieben, die Jungs müssen jetzt leider gehen. Aber du kannst sie wieder treffen! Nämlich wenn du bei unserem Gewinnspiel mitmachst. Du bist ein echter Directioner? Dann schick eine SMS an die unten eingeblendete Nummer und mit etwas Glück gewinnst du ein exklusives Meet&Greet mit allem Drum und Dran! Der Gewinner wird am Ende der Sendung bekannt gegeben", hörte ich die Stimme der Moderatorin.
Ein ohrenbetäubender Schrei seitens Brooke und ehe ich mich versah, stürmte sie in ihr Zimmer.
„Ich muss da sofort mitmachen! Auf so eine Chance hab ich mein ganzes Leben gewartet! Wo ist mein Handy? Verdammt, wo ist mein Handy?!"
Ich schlich leise zur Haustür.
„Alex! Bleib gefälligst hier! Du musst mir suchen helfen!"
Ich griff hastig nach meinem Skateboard.
„Tut mir leid, Brooke, aber ich muss jetzt echt los. Du findest dein Handy schon allein!"
Ich schlüpfte aus der Wohnung und knallte die Tür hinter mir zu.
Aufatmend lehnte ich mich dagegen.
„Alexandra Greyson! Würdest du mir bitte erklären, was dieser Lärm hier soll?"
Ich zuckte zusammen und starrte Mrs Richards an, die mit hochrotem Kopf die Treppen raufgehumpelt kam.
„Dass der Fernseher zu laut ist, ist ja nichts Neues. Aber der Schrei gerade eben war mal wieder die Spitze des Eisberges! Ich mag euch wirklich sehr, aber ihr wohnt hier nicht alleine!"
Ich nickte höflich und beobachtete, wie sich Mrs Richards mit der letzten Stufe abquälte.
Keuchend blieb sie vor mir stehen.
„Alexandra, ich bin jetzt fast 78 und damit nicht mehr die Jüngste. Erst vor zwei Monaten hab ich meine neue Hüfte bekommen, und die Arthrose in den Kniegelenken wird auch immer schlimmer! Ich wäre euch also zum Dank verpflichtet, wenn ihr euch ein bisschen zurückhalten würdet. Das ewige Treppensteigen bringt mich noch um!"
Mrs Richards legte mir ihre zitternde Hand auf die Schulter. Sie sah mir ernst in die Augen und ignorierte tapfer die Tatsache, dass ich einen Kopf größer war als sie.
„Weißt du, wenn du mal in meinem Alter bist, wirst du die gleichen Probleme haben. Du wirst einsam, weil all deine Lieben sterben. Und dadurch kriegst du Depressionen und willst dir am liebsten das Leben nehmen. Aber dann stürzt du, brichst dir die Hüfte und kannst dich erst mal gar nicht mehr bewegen. Nicht mal auf's Klo gehen! Außerdem bekommst du überall Hautauschläge, so viele, dass du gar nicht alle behandeln kannst! Und wenn du dann irgendwann denkst, dass es nicht mehr schlimmer geht, ziehen über dir zwei Mädchen ein, von denen die eine illegal Graffitis sprüht und die andere die ganze Zeit grausame Musik hört. Nein, älter werden ist nicht schön"
Mrs Richards wackelte mit dem Köpfchen.
„Du glaubst mir wahrscheinlich nicht, aber ich kann dir mal meine Ausschläge am Rücken zeigen. Schau mal, so lustig ist das nicht..."
Bevor sich Mrs Richards noch auszog, schob ich sie vorsichtig von mir weg.
„Ähm, warum reden sie nicht mit Brooke darüber? Die versteht sie wahrscheinlich besser als ich"
Ich tätschelte Mrs Richards die Schulter und machte, dass ich wegkam.

Ich hatte ziemlich lange nach einer geeigneten Mauer gesucht. Die, die noch frei und blütenrein waren, befanden sich direkt an der Straße. Da konnte ich schlecht sprayen, es sei denn, ich hatte Bock auf den Knast.
Aber an den Mauern, die gut versteckt waren, hatten schon andere Sprayer ihre Spuren hinterlassen.
Ich wollte schon aufgeben und schlecht gelaunt wieder nach Hause fahren, als ich an einem verlassenen Tennisplatz vorbeikam. Neugierig kletterte ich über den Zaun und sah mich um. Neben zwei verwilderten Plätzen gab es noch ein kleines Clubhaus und eine Tennismauer.
Ich stand mit in die Seiten gestemmten Händen vor der Mauer und lächelte zufrieden.
Sie war zwar nicht weis, aber verdammt groß. Und sie gehörte mir allein.
Ich fischte aus meinem Rucksack die erste Dose und schüttelte sie. Dann fing ich an, die Umrisse zu sprayen.
Konzentriert arbeitete ich mich vor. Ich füllte die Buchstaben mit verschiedenen Farben und verzierte sie. Langsam nahm mein Werk Form an. Ich war voll und ganz in meinem Element und vergas Alles um mich herum.
„Was machst du da?"
Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so erschreckt. Ich zuckte zusammen, wirbelte herum und hielt meine Dose wie eine Waffe vor mich. Mein Herz klopfte so laut, dass ich es in meinen Ohren hörte.
Aber anstatt einem Polizisten oder wenigstens 'nem bulligen Kleinkriminellen gegenüber zustehen, sah ich in das Gesicht eines Lockenkopfes.
„Hast du das gemacht?"
Der Junge sah staunend die Wand an.
„Das ist ja riesig"
Ich ließ ihn nicht aus den Augen und setzte innerlich schon zum Sprung an, falls doch noch irgendwelche Cops aus den Büschen springen sollten. Aber nichts geschah. Der Junge bewunderte nur schweigend mein fast fertiges Werk.
Endlich wandte er sich wieder an mich.
„Du weißt schon, dass das illegal ist, oder?"
Seine grünen Augen fixierten mich.
Och nee, nicht noch so ein Spießer.
„Ja"
Meine Stimme zitterte ein bisschen, aber ich versuchte so selbstbewusst wie möglich rüber zu kommen.
„Und warum machst du's dann?"
„Weil es mir Spaß macht. Weil es mich erfüllt. Und weil ich es kann"
Der Junge schwieg einen Moment und nickte nachdenklich.
„Was ist mit dir? Hast du nicht irgendwas, dass du als deine Bestimmung siehst?", fragte ich.
„Doch. Ich singe"
Ich starrte ihn an.
„Du singst?"
„Ja. Warum sagst du das so... entsetzt?"
„Naja, du bist vermutlich so alt wie ich und da hat man eigentlich andere Hobbies. Es sei denn, man verdient durch Singen Geld. Aber das tust du wahrscheinlich nicht"
Die Mundwinkel des Jungen zuckten verdächtigt.
„Ich verdiene etwas mit meinem Gesang"
„Und wie viel?"
„Och... Ein kleines Taschengeld"
Ich runzelte die Stirn. Der Junge sah aus, als würde er im nächsten Augenblick loslachen.
Keine Ahnung, was so witzig war.
„Wie heißt du eigentlich?", wollte ich wissen.
„Harry. Und du?"
„Alex"
„Nett dich kennenzulernen, Alex. Kannst du jetzt bitte die Dose auf etwas anderes richten? Es beunruhigt mich, wenn du sie mir so unter die Nase hältst"
Ich wurde rot und warf die Dose in meinen Rucksack.
„Mir gefällt dein Graffiti. Was steht da? Be Young. Be Free? Woher hast du denn die Weisheit?"
„Ähm..."
Na toll. Ich könnte jetzt theoretisch sagen, dass mich Mrs Richards auf die Idee gebracht hat. Als sie mir heute ihre Suizidgedanken anvertraut hatte, dachte ich mir, dass es Zeit wäre, das jung-sein zu genießen. Ich werde in ein paar Wochen schon 20 und bis jetzt wollte ich unbedingt älter werden, weil ich dachte, dass dann alles besser ist. Tja, da hatte ich mich wohl getäuscht.
Aber wenn ich Harry jetzt erzähle, dass mich ein Gespräch über Arthrose und Ausschläge inspiriert hatte, hält er mich vermutlich für komplett bescheuert.
„Ich... hab's aus einem Buch"
„Aus einem Buch?"
„Ja. Ein Buch über... Philosophen des 12. Jahrhunderts"
Super gemacht Alex! Du hattest in deinem Leben höchstens drei Bücher in der Hand und in keinem stand etwas über Philosophen aus dem 12. Jahrhundert.
Harry schien nicht genau zu wissen, was er davon halten sollte. Er legte die Stirn in Falten und dachte nach, während er mein Graffiti betrachtete.
Dann lächelte er und nickte mir freundlich zu.
„Find ich cool. Ein Freund von mir sprayt übrigens auch. Aber nur in seinem eigenen Haus"
Ich entspannte mich etwas.
Da hörte ich Stimmen, die sich uns ziemlich rasch näherten.
Harry schien die Stimmen zu kennen, er seufzte kurz und sah mich dann entschuldigend an.
„Tut mir leid, aber die Anderen scheinen mich gefunden zu haben. Du solltest jetzt besser gehen. Wenn die das hier sehen, hast du ein Problem"
Bevor ich fragen konnte, wer „die Anderen" waren, drückte mir Harry meinen Rucksack und mein Skateboard in die Hand. Dann sah er mich kurz an.
„Du bist echt cool, Alex. Anders als die Mädchen, die ich kenne, aber cool. Hoffe, wir sehen uns bald wieder. London ist ja nicht so groß"
„Sind ja nur über 8.000.000 Einwohner", meinte ich und grinste.
„Na siehste. Da stehen unsere Chancen doch gut"
Er schubste mich hinter das nächstbeste Gebüsch. Keine Sekunde später bogen vier dunkel gekleidete Männer um die Ecke. Sie sahen sowieso schon gefährlich aus, und ihre finsteren Mienen machten die Sache auch nicht besser.
„Harry! Da bist du ja! Wir haben das ganze Viertel nach dir abgesucht!"
Einer der Typen baute sich wütend vor Harry auf.
„Wie oft soll ich dir das noch sagen, keine Privatausflüge! Du musst hier draußen immer mindestens zwei Bodyguards um dich rum haben!"
„Entspann dich, Paul. Mir ist ja nichts passiert", antwortete Harry locker.
„Aber dir hätte was passieren können! Und dann hätte mich Simon-"
In diesem Moment fiel der Blick des Typens auf mein Graffiti. Er holte tief Luft.
„Da!"
Anklagend deutete er auf mein Kunstwerk.
„Die Leute, die so was machen, sind kriminell! Die scheuen vor nichts zurück! Nicht mal vor Mord!"
„Meinst du nicht, dass du etwas übertreibst?", fragte Harry.
„Ich übertreibe nicht, ich untertreibe! Du hast ja keine Ahnung, zu was solche Menschen fähig sind!"
„Und was ist, wenn diese Menschen eigentlich ganz nett sind? Und überhaupt nicht gefährlich? Was ist, wenn sie nur ihrer Bestimmung folgen wollen?"
„Pfff, Bestimmung! Meine Bestimmung ist jedenfalls dich zu beschützen. Aber das geht nicht, wenn du die ganze Zeit abhaust! Also komm jetzt mit, wir müssen es noch rechtzeitig zu dem Pressetermin schaffen. Sind sowieso schon viel zu spät dran"
Mit den anderen drei Kerlen im Schlepptau machte der Typ den Abgang. Ich hörte nur noch, wie einer sagte: „Du musst aber zugeben, dass das Graffiti ziemlich gut ist", und der sogenannte Paul ihn mit einem „Fresse Ashford! Oder ich sorge dafür, dass du neben diesem Mist an der Wand klebst!" zum Schweigen brachte.
Harry stand noch einen Moment da und sah mein Graffiti an. Dann lächelte er in Richtung Busch und lief den Typen hinterher. Ich lag zwischen den ganzen Zweigen und wartete noch einen Augenblick. Dann versuchte ich mich vorsichtig zu befreien.
Als ich wieder über den gleichen Zaun kletterte, über den ich auch gekommen war, fiel mir auf, dass es das erste Mal seit langem war, dass ich mit einem Jungen geredet hatte, ohne dem Gendanken, ihn für mich zu gewinnen. Ich schüttelte verwirrt den Kopf.

Sachen gab's.
Zuhause sprang Brooke wie eine Flipperkugel durch die ganze Wohnung.
„Gleich ist es soweit! Oh mein Gott, gleich werden sie verkünden, wer das Meet&Greet gewonnen hat!
Ich bin so aufgeregt!"
„Nee, wäre mir jetzt nicht aufgefallen", murmelte ich und ließ meine Sachen dort fallen, wo ich gerade stand. Dann schmiss ich mich auf die Couch.
Brooke knabberte nervös an ihren Fingernägeln und blieb mitten im Raum stehen.
„Hey, Brooke! Ich sehe nix!", schimpfte ich.
Meine Freundin lief ein bisschen im Kreis, dann setzte sie sich neben mich, um im nächsten Moment gleich wieder aufzuspringen.
„Alex, ich halte das nicht mehr aus! Ich bin total aufgedreht, mein Herz schlägt unfassbar schnell und ich krieg keine Luft mehr!" Wie zur Bestätigung röchelte Brooke ein paar Mal.
„Siehst du?!"
Ich verdrehte nur die Augen und vergrub meinen Kopf unter einem Kissen.
„Tja, liebe Zuschauer, seid ihr bereit, den Sieger zu erfahren?"
Brooke quietschte.
Ich stöhnte.
„Okay, der Gewinner wurde per Zufallsverfahren ausgewählt. In diesem Umschlag ist der Name"
Die Moderatorin wedelte vergnügt mit dem Umschlag.
Brooke hechelte wie ein Hund.
Ich sah sie besorgt an.
„Alles ok?"
Brooke nickte, bekam aber keinen Ton raus.
„Und der Gewinner ist..."
Umständlich pfriemelte die Tusse im Fernsehen einen Zettel aus dem Umschlag.
„...Brooke Blackstone!"
Einen Moment war Alles still. Ich sah Brooke nervös an. Die saß nur da und starrte den Fernseher an. Dann fingen ihre Gesichtsmuskeln an zu zucken. Ich kniff die Augen zusammen.
„OH MEIN GOTT! ICH HABE GEWONNEN! ICH WERDE SIE TREFFEN! ICH... ICH..."
Brooke fiel mir um den Hals.
„ALEX, ICH HAB GEWONNEN!"
„Yey, Brooke! Das ist toll!", röchelte ich und schnappte nach Luft.
Brooke quietschte, dann ließ sie mich los und rannte in den Flur. Sie riss die Haustür auf und brüllte das ganze Haus zusammen.
„ICH HAB GEWONNEN! ICH WERDE MEINE LIEBLINGSBAND TREFFEN! ICH FLIPP AUS!"
„Ja, ist denn das zu glauben...", hörte ich die entrüstete Stimme von Mrs Richards.
„MRS RICHARDS! ICH HAB GEWONNEN!"
„Brooke, was soll der Krach? Was machst du da? Wieso umarmst du mich?! Lass mich los! ALEX! Pfeif deine Freundin zurück!"
Aber ich lag auf der Couch und lachte nur.


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