Kapitel 1

30 2 1
                                    

Es ist ein unordentlicher Gedanke. Er stromert in meinem Kopf umher und lässt sich nicht richtig einordnen. Überall prallt er ab, wie ein Gebet, das von Gott nicht erhört wird, wie ein Stöckchen, das man von sich wirft, von einem treuen Hund aber wieder zurück gebracht wird.

Es ist ein wenig auch ein unerhörter Gedanke, denn er lässt sich nicht vertreiben, auch wenn ich weiß, dass sich ein paar Menschen von ihm beleidigt fühlen würden. Unerhört ist auch, dass mich das kein Bisschen interessiert.

Aber so sehr ich ihn auch hin und her wende, so sehr ich ihn von allen Seiten ablutsche und ihn in allein seinen Facetten betrachte, ich komme zu keinem anderen Schluss: Ich bedauere die Menschen, die mich bedauern.

Und ihrer gibt es nicht wenige. Keiner von ihnen macht sich Gedanken darüber, ob sie mich damit beleidigen, dass sie meine Zurechnungsfähigkeit in Zweifel ziehen, weil ich trotzallem glücklich bin. Fast ist es so, als wollten sie es nicht glauben, als dürfte nicht sein, was sie nicht verstehen können, als müssten sie sich sonst eingestehen, selbst ein Leben voller fataler Fehler geführt zu haben, während ich – in ihren Augen naiv – einfach so durch mein Leben gestolpert sei. Es geht gegen irgendein göttliches Prinzip, dass ausgerechnet ich glücklich zu sein behaupte, während sie es nicht sind.

Was bleibt mir also, als sie zu bedauern? Sie, die sie sich immer an alle Regeln gehalten haben, die sie jetzt unzufrieden mit ihrem Lohn sind, die sie mehr von einem demütigen, hingebungsvollen Leben erwartet hatten, als gedemütigt und ausgenutzt zu werden. Sie sind es, die ihren Illusionen verfallen waren. Ich besaß nie dergleichen und kann nun mit Stolz und Überzeugung sagen: Ich hatte ein erfülltes Leben. Ich hatte ein anspruchsvolles Leben. Wer sich aber jeden Anspruch verbietet, der muss sich nicht wundern, wenn er abgespeist wird.

Glück ist weder Zufall, noch Schicksal. Es ist auch keine Entscheidung, verstehen Sie das nicht falsch. Viel mehr ist Glück die Freiheit, die man sich selbst gewährt.

Unglück hingegen ist der Neid, mit dem man, sich hilflos an Konventionen klammernd, herabblickt auf diejenigen, die sich entschieden haben, anzustreben, was man selbst sich nicht zu träumen wagt.

Bedauern hingegen ist selbstgefällig und hochmütig. Bedauern ist verkleideter Zynismus. Oder offener Zynismus. Jedenfalls braucht anscheinend jeder Mensch einen anderen, auf den er herabblicken kann, den er aufrichtig bemitleiden kann und bei dessen Betrachtung er sich denkt: Zum Glück lebe ich in geordneten Verhältnissen. Und schon sieht die eigene Misere nicht mehr ganz zu frustrierend aus. Und schon ist man wieder dankbar für das, was man hat und einem gewährt wurde, dafür, dass man unauffällig ist, nicht ins Gerede gerät, geachtet und respektiert wird. Bedauern ist eine Tugend. Bedauert werden ist eine Ächtung. Gesteigert nur durch Bemitleidung.

Meine Mutter hat immer gesagt, Neid müsse man sich verdienen, Mitleid bekäme man geschenkt. Ich glaube, das ist nicht wahr. Niemand gibt zu, neidisch zu sein und deshalb kaschieren alle ihren Neid als Mitleid oder Entrüstung. Alles das bekommt man geschenkt und von nichts davon kann man sich etwas kaufen. Ich habe nichts davon, dass ich bemitleidet oder beneidet werde, also habe ich aufgehört, mich vom Blick der anderen auf mich abhängig zu machen. Das ist, glaube ich, der erste Schritt hin zu einer inneren Entspannung, die den zufriedenen Landstreicher vom unzufriedenen Gutsherren unterscheidet.

Um diese innere Entspannung zu erlangen, muss man sich zunächst von bestimmen Illusionen verabschieden. Beispielsweise, dass eine alleinstehende Frau unvollständig ist und der Mann in ihrem Leben die Erfüllung darstellt. Wer an solche Dinge glaubt, wird bitter enttäuscht werden, wenn sie feststellt, dass auch Männer keine vollkommenen Wesen sind und keineswegs ein Garant für Glück und Sicherheit.

Im SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt