Kapitel 10

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Egal wie verquer er war, wir heirateten noch im selben Herbst. Es war eine kleine, schlichte Zeremonie in der Dorfkirche. Ein kleines Essen mit der Familie und bereits am nächsten Tag hatte der Alltag uns wieder.

Ich durfte ein Zimmer im Herrenhaus nehmen und bekam dafür nur geringfügig den Lohn gekürzt. So konnten Vincent und ich beinahe zusammen wohnen und es fühlte sich wirklich an, als wären wir beide schließlich doch erwachsen geworden. Es war ein beruhigendes Gefühl – zumindest aus meiner Perspektive. Vincent fand es hingegen beängstigend. Er sagte: „Du bist auf all das hier vorbereitet. Ich bin allerdings ein völliger Idiot."

Das stimmte nun auch wieder nicht. Er bemühte sich redlich, seine Gedichte in irgendwelchen Zeitungen unterzubringen, aber es klappte nicht.

Er sagte: „Sie nehmen mich nicht, weil ich in diesem Haus hier wohne. Sie halten mich für irgend so einen privilegierten, gelangweilten Adelssprössling, der der Welt beweisen muss, was für ein Schöngeist er ist. Sie glauben, ein echter Dichter müsse leiden und dabei setzen sie Leid mit Armut gleich. Ach, wenn sie nur von der geistigen Armut der privilegierten Adelssprösslinge wüssten!"

„Beschwerst du dich gerade, dass du nicht arm genug bist?", fragte ich.

„Nicht arm genug, um unterstützt zu werden. Nicht reich genug, um mich über Wasser halten zu können", sagte er und zuckte mit den Schultern. Sein Zynismus war zurückgekehrt und es beruhigte mich. Eine Ehe mit einem Mann, der mir fortwährend vorjammert, was er für ein Versager ist, wäre mir auf Dauer doch recht anstrengend vorgekommen.

Recht früh hatten wir uns entscheiden, dass wir zumindest vorerst keine Kinder wollten.

„Wir können sie nicht ernähren und noch mehr nicht zur Familie gehörende Kinder in diesem Haus würden Alberts Halsschlagader vermutlich zum Platzen bringen."

Ich stimmte ihm zu. So lange mein Lohn unser Haupteinkommen war und Vincent sein Zimmer in der Wohnung seiner Eltern bewohnte, fühlte es sich nicht richtig an, eine Familie zu gründen. Wir waren eben ein junges Ehepaar, das es langsam angehen wollte.

„Moderne Zeiten", kommentierte Emily.

„Er nennt es eine hündische Ehe", erklärte ich ihr.

„Komischer Ausdruck. Die meisten Hunde, die ich kenne, vermehren sich, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sie ihre Welpen ernähren."

Ich zuckte mit den Schultern. Das hatte ich mir von Vincent abgeschaut.

„Na, Hauptsache, ihr seid euch einig."

„Ich denke, das sind wir."

Eine Ehe ist eine ernüchternde, aber keine trockene Angelegenheit. Wer glaubt, dass man nach der Hochzeit für immer im Liebestaumel durchs Leben wankt, der irrt. Aber so richtig vom Alltag und seiner Langeweile eingeholt wurden wir auch nicht.

Vincent ließ sich immer neue Themen und Interessensgebiete einfallen, über die er erst sich und dann mich informierte. So entwickelte er zum Beispiel eine beinahe obsessive Neigung für die Astronomie.

Noch im November verbrachten wir die Nächte auf dem nahegelegenen Feld. Es war ihm egal, ob wir froren, wenn nur das Wetter gut und der Himmel klar war, denn zu dieser Zeit konnte man sein Lieblingssternbild besonders gut am Südhimmel stehen sehen. Er erklärte mit dann jedes Mal, was es damit auf sich hatte: Orion, der sagenumwobene Jäger, prahlte damit, jedes Tier der Welt jagen und erlegen zu können. Weil diese Anmaßung den Göttern missfiel, erschufen sie den Skorpion, das Wesen, das ihn schließlich niederstreckte. Am Himmel sieht man den Jäger begleitet von seinem Hund Sirius, den Plejaden nachstellend, während er gleichzeitig dem Skorpion nachjagt, der genau dann hinter dem Horizont verschwindet, wenn Orion aufgeht. Die beiden werden einander nie erreichen und sich ewig verfolgen. Er zeigte zum Himmel und sagte: „Siehst du den Stern da?" Ich sah viele Sterne, aber ich wusste, welchen er meinte. „Das ist Beteigeuze", erklärte er, „Er muss unvorstellbar groß sein und nur deshalb können wir ihn sehen, denn er ist außerdem unvorstellbar weit weg. Eines Tages wird er sich zur Nova aufblähen und dann verglühen und einfach verschwinden. Und wir wissen nicht, ob es morgen oder in hunderttausend Jahren passieren wird. Vielleicht ist es auch schon geschehen, denn sein Licht braucht viele Jahre, um uns zu erreichen. Wenn wir zum Sternenhimmel blicken, sehen wir in die Vergangenheit. In viele verschiedene Vergangenheiten. Wir wissen zu keinem Zeitpunkt, was real ist. Die Sterne erinnern uns daran, dass wir nichts wissen."

Im SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt