Kapitel 6

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Manchmal wurde man aus Emily nicht schlau. Sie wirkte immer selbstsicher und ging den meisten Leuten mit ihrer besserwisserischen Art auf die Nerven. Sie konnte alles, wusste alles, hatte alles schon einmal erlebt, aber manchmal schimmerte durch ihre Fassade eine gewisse Unsicherheit ausgerechnet im Bezug auf vermeintliche Banalitäten.

„Es sind die Dinge, über die niemand nachdenkt", sagte sie mir einmal, „Die machen mich fertig. Was jeder für selbstverständlich hält, das macht mir Angst. Wie kann man sich sicher sein?"

„Aber du hast doch selbst gesagt, man wird wahnsinnig, wenn man alles in Frage stellt", sagte ich ihr und sie blickte mich nur vielsagend an.

„Wir müssen miteinander reden!", sagte ich zu Vincent, als ich ihn das nächste mal sah. Er saß auf einer Bank im Hof des Landhauses und las. Sein Hals und seine Schulter waren immer noch bandagiert, aber das Fieber war verschwunden.

„Oh, das hört sich nicht gut an", sagte er, „Was habe ich verbrochen?"

„Gar nichts", sagte ich, „Aber ich habe nachgedacht und erkannt, dass man keinen Menschen je kennen lernen kann, wenn man nicht aktiv darüber redet, wer man ist, wer man zu sein glaubt und wer man in den Augen des anderen ist."

„Du darfst aber nicht in den Glauben verfallen, dass du den Blick eines anderen brauchst, um vollständig zu sein", sagte Vincent."

„Wieso nicht? Kennt man sich denn nicht selbst am schlechtesten?"

„Das kommt drauf an, wessen Meinung man höher schätzt, deine eigene oder die aller anderen. Und es kommt darauf an, wer „man" ist."

„Hältst du Bescheidenheit nicht für eine Tugend?"

„Nein. Überhaupt nicht", sagte Vincent und das war keine Lüge.

Wir trafen uns von nun an regelmäßig, gingen über die Felder spazieren oder tranken Tee in der Stube seiner Mutter. Auch wenn sie mir ein wenig Angst machte, war sie immer sehr freundlich zu mir. Einmal drückte sie ihre Dankbarkeit aus, dass ich ihrem Sohn eine so gute Freundin war.

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, denn ich wusste ja selbst nicht, wie es geschehen war, dass ich Vincents Verschrobenheit so anziehend fand.

Als die Tage dunkler wurden, begann ich immer häufiger wahrzunehmen, wie sich über Vincents Gemüt eine Art Schatten legte. Nur kurz für ein paar Augenblicken, wie wenn eine Wolke die Sonne verdeckt. Er sagte dann Sätze wie: „Manchmal glaube ich, dass ein Mensch nichts mehr ist, als eine Seele, die in einen Sack aus Haut gesperrt wurde. Und dann frage ich mich, ob es so etwas wie eine Seele überhaupt gibt."

Zunächst hatte ich große Probleme damit, Antworten auf solche Standpunkte zu finden. Wo sollte ich auch ansetzen? Ihm zu bestätigen, dass er ganz sicher eine Seele hatte, hätte ihn nur noch mehr bestürzt, weil er dann ja immer noch ihre Gefangenschaft zu beklagen hätte. Vincent baute sich seine Gedankenkonstrukte so, dass es nie einen Ausweg oder ein mögliches glückliches Ende gab. Es gab immer Fallstricke, jeder Lösungsvorschlag hatte einen Haken.

Wenn ich sagte: „Ein Mensch ist ein Mensch, es ist nicht an uns, unser Dasein zu bewerten und Gott ein Zeugnis für unser Leben auszustellen", konnte ich sicher sein, dass er mir einen Vortrag darüber hielt, dass Gott nicht existierte und wir deshalb gezwungen seien, unser Dasein selbst zu bewerten.

„Aber wem stellst du dann das Zeugnis aus? Wer hat dich in den Sack aus Haut gesteckt?", fragte ich.

Vincent schnaubte. Ich kannte die Antwort, aber ich wollte sie aus seinem Mund hören.

Im SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt