Kapitel 4

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Eine Woche nach dem Fest und dem Verlust der Prachthenne war der Alltag längst zurückgekehrt. Die Männer hatten ihren Kater überwunden. Die Blasen, die die Bäuerinnen sich beim Tanzen zugezogen hatten, weil sie sich aus Eitelkeit in zu enge Schuhe gezwängt hatten, waren abgeheilt und mein Selbstwertgefühl wieder weitestgehend hergestellt. Was Hannah an Süßigkeiten stibitzt hatte, war verspeist und die Jungen, die einst so schüchtern und zuvorkommend um einen Tanz oder einen Kuss gebeten hatten, verhielten sich so flegelhaft und ungehobelt wie eh und je.

Das beruhigte mich ein wenig. Sie pfiffen Georgina und Margarete genauso anstößig hinterher wie Emily oder mir, wenn sie uns auf der Straße sahen. Konnte es sein, dass es für Jungen überhaupt keinen Unterschied machte, welches Mädchen sie abschleppten? Sahen wir für sie vielleicht alle gleich aus? Man hätte doch zumindest annehmen können, dass sie den Mädchen, mit denen sie ausgegangen waren, hinterher mit etwas mehr Respekt begegneten.

Emily meinte daraufhin zu mir, dass sie das nicht wundere. Sie hätte noch keinen Jungen getroffen, der in seinem tiefsten Inneren kein Schwein war. Das fand ich sehr hart, denn ich war mir zumindest sicher, dass mein Bruder nicht so werden würde. Er war zart und freundlich zu jedermann...

„Warte es ab", riet Emily, „Er wird auch ein kleiner Tyrann werden und deine Eltern werden in umsorgen wie einen Prinzen. Ich kann dir nur raten, bis dahin ausgezogen zu sein, damit du das nicht miterleben musst."

„Wie soll ich denn ausziehen?", fragte ich, „Wo soll ich denn hingehen?"

„Wieso bewirbst du dich nicht um eine Stelle?"

„Wo denn?"

„In einem Haus oder in einem Geschäft. Oder in einer Schule. Du wärst eine gute Lehrerin, Helen."

„Aber ich weiß doch nichts", sagte ich.

„Das hat unseren alten Lehrer auch nicht daran gehindert, sich vor uns aufzuspielen, oder?"

„Ausziehen ohne zu heiraten erscheint mir sehr verzweifelt", fand ich, „Sowas machen nur Frauen, die später mal als alte Jungfer enden und die verrückte, alte Tante von jemandem sind."

„Meine verrückte, alte Tante war eine sehr glückliche Frau", behauptete Emily, „Ich wollte immer so werden wie sie."

„Im Ernst?"

„Wieso denn nicht? Sie musste keine Kinder versorgen und konnte eine Menge Geld sparen. Sie konnte in der Stadt leben und jede Woche eine Bridgerunde mit ihren Freundinnen abhalten. Und glaub nur nicht, die hätten da nur Tee getrunken! Sie hat sich einfach alles erlaubt, weil niemand ihr etwas verboten hat."

Ich rümpfte die Nase.

„Und als sie gestorben ist, kamen unfassbar viele Frauen aus der ganzen Gegend zur Beerdigung und außer dem Pfarrer, meinem Bruder und meinem Vater war kein einziger Mann da. Der kam sich vielleicht blöd vor. Hinterher hat er meiner Mom Vorhaltungen gemacht, was für ein liederliches Leben ihre Schwester da geführt habe und alles. Aber das Ersparte, das sie meiner Mutter vermacht hat, hat er dann doch gerne genommen."

„Und so kann man sein Leben verbringen? Ist das nicht irgendwie unmoralisch?"

„Wieso denn? Sie ist einer ehrlichen Arbeit nachgegangen. Sie hat in einem Teegeschäft gearbeitet. Und da hat sie eben viele Leute kennen gelernt. Was ich eigentlich sagen wollte, Helen, ist, dass uns alle Türen offenstehen, wenn wir nicht den offensichtlichsten Weg gehen. Das ist mir erst kürzlich klar geworden. Wir können tun, was wir wollen, aber wir müssen es halt tun und nicht davor zurückschrecken."

„Weil andere nicht wollen, was wir wollen", ergänzte ich und hatte das befremdliche Gefühl eines Déjà-Vu.

„Exakt", sagte Emily, „Träumst du nicht auch manchmal davon, einfach abhauen zu können? Irgendwohin. Vielleicht nach China oder Amerika. Und dann nur noch unter Leuten sein, die dich nicht kennen und nichts über sich wissen und du allein wählst aus, mit wem du dich anfreundest und wen du meidest."

Im SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt