Jeden Morgen

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Jeden Morgen.
Jeden Morgen um kurz nach sieben Uhr.
Jeden Morgen gehe ich zur Schule.
Jeden Morgen warte ich auf die Bahn.
Jeden Morgen stehe ich am selben Fleck.
Jeden Morgen vor einem Stück Beton.
Jeden Morgen vor einem Quadratmeter Beton der gleichen Firma.
Jeden Morgen vor dem BAUER-Beton.
Jeden Morgen denke ich dabei das gleiche.
Jeden Morgen denke ich über den Sinn nach.
Über den Sinn, warum ich ausgerechnet hier stehe. Hier vor einem Beton, der genauso heißt wie ich. Bauer.
Wirklich jeden Morgen stehe ich da und warte.
Bei jedem Wetter. Zur gleichen Uhrzeit.
Nur die Wartezeit variiert. Mal nur wenige Minuten, mal fast eine Stunde.
Manchmal verpasse ich die Bahn.
Manchmal nehme ich absichtlich die nächste.
Aber ärgern tue ich mich darüber nicht.
Sie kommt ja meistens alle zehn Minuten.
Oder alle 20. Aber das macht nichts.
Dann habe ich mehr Zeit um nachzudenken.
Über die Welt. Über mich. Über das Stück Beton vor meinen Füßen. Über das warum. Über das, was ich nicht verstehe. Über das, was ich verstehen will.

Das kleine Stück Beton, das genauso ist wie ich: kaum beachtet, grau, trist, abgetreten. Dieses Stück ligt zu meinen Füßen, so als hätten wir uns verbündet und dieser Kontakt gibt uns die Kraft bis zum nächsten Tag durchzustehen. So wie eine Droge. Meine Droge. Der andere Scheiß wirkt ja nicht. Der andere Scheiß schmeckt nicht. Aber das Stück Beton gibt mir etwas. Etwas, das ich nicht verstehe. Etwas, was ich brauche. Etwas, was mittlerweile zu einem Teil von mir geworden ist. Etwas, was ich brauche. Etwas, was mich glücklich macht.

10 Jahre stehe ich jetzt vor diesem trostlosen Beton. Doch erst vor kurzem habe ich es bemerkt. Den Zusammenhang. Und das ich jeden Morgen hier stehe. Vor einem Quadratmeter Beton. Vor einem Stück BAUER-Beton. Einem Beton, der genauso heißt wie ich. Bauer.

Kurz. Knackig. Ich. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt