Kapitel 1- Alles auf Anfang

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Die Dunkelheit umgibt mich und nagt an mir wie ein Monster, während die Metallplatte langsam, ruckelnd nach oben fährt. Mich verschluckt wie eine Welle und mich nicht mehr preisgeben will.
Die Fingernägel in meinen Handflächen vergraben stehe ich da, den Kopf erhoben und konzentriere mich auf meinen Gesichtsausdruck.
Unbeteiligt, gelangweilt, eine Spur von Vorfreude.
Versuche die Gefühle die in Wahrheit in meinem Inneren toben, nicht nach draußen dringen zu lassen, die Angst, die Panik und den Ekel. Unbändige Furcht vor dem Ort des Todes, der dort oben auf mich wartet. Nach mir ruft wie ein alter Freund.
Nicht einmal in meinen schlimmsten Träumen hätte ich mir erdenken können, noch einmal in die Arena zu ziehen und in den Hungerspielen gezwungen zu werden bis zum Tode zu kämpfen. Doch dieses Mal ist es anders, ein Jubel-Jubiläum. Grausamer, größer, wahnsinniger, absolut tödlich.
Schnell versuche Ich mir die wichtigsten Fakten aus meinem Leben in mein Gedächtnis zu rufen, mich die ganze Zeit an ihnen festzuhalten, um sie nicht zu verlieren.
Mein Name ist Neva Santos und ich bin 16 Jahre alt.
Ich habe eine Mutter, einen Vater, eine Schwester und einen kleinen Bruder, daheim in meinem Heimatdistrikt 1.
Ich bin mit 12 Jahren in die 96. Hungerspiele gezogen und habe, trotz aller Erwartungen, überlebt.
Ging als jüngste Siegerin in die Geschichte der Hungerspiele ein.
Finnick Odair ist ein Dreck gegen mich.

Meine Gedanken werden jäh unterbrochen, als die Metallscheibe mich aus dem Boden stößt und sogleich ein scharfer Wind an meinen Kleidern und Haaren zu Zerren beginnt.
Ein Geruch von Erde, Laub und Feuchtigkeit dringt in meine Nase, vermischt mit etwas dass ich nur allzu gut aus meinen ersten Spiele kenne. Der Geruch von Angst.
Ich reiße meine Augen auf, merke erst jetzt dass ich sie die ganze Zeit krampfhaft geschlossen hatte.
Versuche meine steifen Finger zu entspannen, schüttele sie aus und vertreibe das taube Gefühl in ihnen. Meine Hände werden nach meinen Augen das Wichtigste in den nächsten Stunden, Tagen, vielleicht auch Wochen sein. Wenn ich vorher nicht sterbe. Ich verdränge den Gedanken sofort, als er auftaucht und schiebe ihn in die hintersten Ecke meines Gehirns.
Vor mir liegt das Füllhorn, so vertraut und doch so gehasst.
Ich sehe die Waffen, die Kisten, die Decken und die anderen Gegenstände die ich auf die Entfernung nicht erkennen kann.
Ich spähe einen Bogen aus, der an einer Wand des Horns lehnt und mein Herz höher schlagen lässt.
Der ist für mich, ganz sicher, für mich.
Und ich werde ihn mir nicht wie vor 4 Jahren wegschnappen lassen.
Erst jetzt lenke ich meine Aufmerksamkeit auf die anderen Tribute um mich herum. Sie stehen genauso wie Ich auf einer Metallplatte, in einem grossen Kreis um das goldene Füllhorn in der Mitte. Es lockt mit seinen Gaben und nahezu alle Augen sind auf das Horn gerichtet. Verlockend und tödlich.
Mein Ziel.
Doch zuerst sehe ich mich nach den zwei vertrautesten Personen um und bin erleichtert dass wenigstens eine von ihnen in meinem Blickfeld steht. Seda. Mit ihren hellblonden Haaren sticht sie aus der Masse hervor und ich sehe, dass auch sie mich im Visier hat. Meine beste Freundin aus der Heimat steht dort auf ihrer Platte wie ein Häufchen Elend, sie ist die kleinste von allen, und sieht wahnsinnig verloren aus. In ihren Augen erkenne ich nackte Panik. Im Gegensatz zu den meisten anderen Karrieretributen ist sie nicht freiwillig hier, der Zufall entschied über ihr Schicksal.
Ein Schicksal das grausamer wohl kaum sein konnte. Ein lächerlicher Zufall dass man als Tribut ausgelost wurde, noch lächerlicher dass man zu einem Jubel-Jubiläum antreten muss und dazu noch zu so einem spektakuläre. Es war spektakulär und blutig und das liebte das Kapitol. Und das war das wichtigste von Panem, die Qualen und Opfer der Distrikte waren da Nebensache.
Zum Anlass der 100. Hungerspiele, dem 4.Jubel-Jubiläum,entschied man dass dieses Elemente aus den zwei vorherigen Jubiläen enthalten sollte. Doppelt so viele Tribute wie normalerweise und dazu würden noch einmal 24 Sieger ehemaliger Spiele antreten.
Ich sehe momentan nur halb so viele und dennoch erschlägt mich die Anzahl. 71 Tribute werden in weniger als 4 Wochen tot sein.
Die Liste der potenziellen Sieger ist lang, fast alle 24 Sieger haben die Chance noch einmal zu gewinnen und unter den 48 Tributen sind einige, die im Training Stärke, Mut und Kampfgeist bewiesen hatten. Meine Freundin Seda kann ich leider nicht dazu zählen, ihr fehlt der nötige Funke der einen Karrierertributen ausmacht und sie könnte nicht mal einer Fliege was zu Leide tun. Als sich an ihrer statt keiner meldete, tat Ich es, jedoch nicht für sie, sondern für Hella. Hella war die 54jährige Siegerin die ausgelost wurde, doch ich meldete mich freiwillig für sie ohne groß zu überlegen und in den nächsten Tagen wuchs der Plan in mir heran, Seda lebend aus der Arena zu bringen. Ich hatte schon einmal gewonnen, nun war sie an der Reihe. Auch wenn das bedeuten musste, dass Ich nicht nur möglichst viele Tribute für sie aus dem Weg schaffen , sondern auch noch selber sterben musste. Nicht zu vergessen, mein Siegerpartner. Der die dämliche Idee hatte sich ebenfalls freiwillig zu melden. Viele würden sagen er tat es aus demselben Grund weshalb ich es tat. Aber nein, ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen dass er nicht vor hat mich zu retten, nicht in erster Linie. Er wollte einfach nochmal in seine geliebte Arena, kämpfen und töten. Mein Vater.

Die Wut auf ihr war gross an dem Tag der Ernte, wuchs während der Woche im Kapitol und ist selbst jetzt nicht verschwunden. Ich kann ihn nicht sehen, wahrscheinlich befindet er sich hinter dem Füllhorn aber das ist mir egal.
Denke Ich.
Meine Gefühle die meinen Vater anbelangen sind gemischt. Er war schon immer der Meinung, dass die Hungerspiele keine Bestrafung, sondern ein Geschenk sind. Eine Möglichkeit sich zu beweisen und wichtig zu werden.
Als Ich mit 12 Jahren gezogen wurde, rechnete jedoch niemand damit dass ich überleben würde. Meine Ausbildung hatte gerade erst begonnen und auch wenn Ich in den meisten Disziplinen schon besser war als die meisten Älteren, wurde ich abgeschrieben. Die Umarmungen und Küsse meiner Familie fühlten sich endgültig an. Ein Abschied auf Ewig.
Somit wurde Ich nach meinem tatsächlichen Sieg in einem Wimpernschlag zur berühmtesten Person in ganz Panem.

Und jetzt stehe Ich hier und warte, dass der Gong uns von unseren Platten befreit.
Ich halte Blickkontakt mit Seda und nicke ihr beruhigend zu. Ihr Lächeln dringt bis zu mir rüber und ich weiss, dass es echt ist. Auch wenn das Blutbad zu Beginn der Spiele der gefährlichste Moment ist und auch die meisten Opfer fordert, so ist die Wahrscheinlichkeit dass einer von uns Karrieros dabei ums Leben kommt, relativ gering.
Zu trainiert sind unsere Körper, um schnell genug am Füllhorn zu sein, wo es genug Waffen gibt um es zu verteidigen und zu halten. Die Karrierertribute sind stets die größte und stärkste Allianz in den Hungerspielen, doch dieses Jahr würde es all das übertreffen. 18 Karrierertribute zählt das Jubel Jubiläum, 6 davon hoch betitelte Sieger. Das Füllhorn ist so gut wie Unser und ich Weiss genauso wie Seda, dass es uns zumindest über das anfängliche Blutbad bringen wird.

Die Minute muss fast um sein, dass ist mir bewusst und so bringe ich meine Füße in Startposition.
Winkele die Arme an und balle die Hände zu Fäusten.
Visiere den Bogen an und atme tief durch.
Ein. Aus.
Mein Herz schlägt wie wild gegen meine Brust.
Gleich wird es soweit sein , gleich, nur noch wenige Sekunden und ich werde meine Waffen gegen andere Menschen erheben, ihr Leben auslöschen und Familien zerstören. All das um Seda zu retten.
Zweifel schieben sich in meine Gedanken, denn mit den Tributen könnte ich es aufnehmen, doch was ist mit den Siegern?
Und es liegt nicht nur daran, sondern an der bloßen, mächtigen Zahl der teilhabenden Tribute.
Zwei Tribute kann ich umlegen, doch wenn sich größere Bündnisse schließen und mir plötzlich ein halbes Dutzend gegenüber stehen?
Ich vertreibe die aufkommende Panik und lenke alles wieder auf Anfang.
In diesem Augenblick ertönt der Gong, ein lauter Knall, wie aus einer riesigen Pistole.
Mit einem Satz bin ich von der Scheibe runter, meine Stiefel versinken in dem mit Laub bedeckten Boden und ich sprinte los.

Neva Santos I. - Das 4. Jubel-Jubiläum#Wattys2019Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt